Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
leidet.«
Malu stützte sich auf den Schreibtisch ihres Vaters. Sie fand dessen Haltung richtig, doch sie wusste, dass sie Ruppert nicht überzeugen konnte. Wolfgang von Zehlendorf mochte vielleicht ein Feigling sein, aber er war ein Mann mit Anstand und Gewissen.
»Was wirst du tun? Wirst du den Mann, der Pfarrer Mohrmann verprügelt hat, hängen lassen?«
Ruppert hob das Glas und betrachtete die goldene Flüssigkeit darin. »Was denkst du denn? Natürlich werde ich das. Und das ganze Gesindel soll dabei zusehen.«
Am nächsten Vormittag ließ Ruppert den Mann vor das Herrenhaus führen. Seine Hände waren mit Stricken gebunden, selbst um die Fußgelenke trug er Kälberfesseln, sodass er sich nur mit trippelnden Schritten vorwärtsbewegen konnte. Seine Bluse war zerfetzt und schmutzig, die Hose hing an ihm herunter wie ein Sack. Das dunkle Haar fiel in Strähnen in sein Gesicht; das Kinn war von einem verfilzten Bart überwuchert. Die Knechte hatten ihn gleich nach dem Anschlag im Wald gefunden, als er versuchte, zurück zu seinen Kameraden zu kommen. Der Russe hatte seine Tat nicht geleugnet und auch kein Fünkchen Reue gezeigt. Trotzdem hatte Pfarrer Mohrmann sich für ihn eingesetzt und ihm sogar vergeben. Aber Ruppert hatte Blut gerochen. Er war es, er allein, der den Mann tot sehen wollte. Und da er der künftige Herr auf Zehlendorf war, konnte er tun und lassen, was er wollte. Seit die Unruhen begonnen hatten, waren Recht und Gesetz außer Kraft. Kein Gericht würde den jungen von Zehlendorf für diese Tat belangen.
Der Mann sah Ruppert trotzig aus blutunterlaufenen Augen an und spuckte ihm vor die Füße. Seine Augen rollten wild, und er bleckte die Zähne wie ein Pferd. »Unsere Sache wird siegen. Wir werden die deutschen Barone vertreiben und das Land Mütterchen Russland wieder einverleiben. Schon bald werden die Arbeiter der Putilow-Werke hier ihre Sommerfrische verbringen.«
Sogleich holte Ruppert aus und versetzte ihm mit der beringten Hand einen Schlag ins Gesicht. Seine Lippe platzte auf, und Blut verfing sich in seinem Bart.
Am Rande des Rondells hatte Ruppert das Gesinde Aufstellung nehmen lassen. Einige der Frauen beteten, die Männer standen starr da, die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt. Das Gesinde bestand zum größten Teil aus Letten, es gab keinen einzigen Russen unter ihnen. Es war sogar so, dass die Letten und die Russen sich wahrlich nicht sonderlich gut verstanden. Die Russen, so hieß es, wären Wilde und Barbaren, die schon als Kinder nichts anderes als Wodka tranken, die Schinkenkeulen ohne Besteck aßen, mit beiden Händen das Fleisch packten und ganze Stücke mit den Zähnen herausrissen. Die während des Essens grölten und fluchten, ihre Weiber schlugen und schändeten und jedem, der ihnen nicht passte, mit den bloßen Händen die Gurgel umdrehten. Und doch standen die Dienstleute nun da und blickten voller Empörung auf Ruppert – und nicht auf den Russen.
»Ihr alle wisst, was dieser Mann, diese Kreatur, getan hat!«, rief er über den Platz. »Und dafür soll er nun seine gerechte Strafe erhalten. Ihr werdet zusehen, wie ich an ihm ein Exempel statuiere. Das soll euch eine Lehre sein. Ein jeder, der sich nicht an die Regeln hält, wird ebenso bestraft werden wie diese Kalamität hier.«
Malu hatte am Fenster gestanden, nur schlecht von einem Vorhang verborgen. Als sie Ruppert »Kalamität« sagen hörte, zuckte sie zusammen und ging hinunter in die Bibliothek. Dort verstopfte sie sich die Ohren mit Watte und blätterte in einem Buch. Ruppert hatte einen gewalttätigen Russen, der Sachen zerstört und einen Menschen brutal zusammengeschlagen hatte, mit demselben Ausdruck bedacht, den die Mutter für sie verwandte. Malu musste schlucken und die Tränen zurückhalten. Dieser Mann da draußen, er war ein Verbrecher, er hatte den Pfarrer bewusstlos geschlagen, ohne dass der ihm etwas getan hatte. War sie wirklich nicht besser als dieser Gewalttäter?
Derweil hatte Ruppert seinem Gefangenen einen Strick um den Hals gelegt und führte ihn zu einem Baum. Er zwang ihn auf einen Stuhl und warf den Strick über einen Ast.
Zwei der Frauen schluchzten auf, die Männer hatten ihre Kappen abgenommen und kneteten sie in den Händen. Ihre Gesichter waren verschlossen.
Der Obermelker trat hervor. »Gnädiger Herr, wir bitten um das Leben dieses Mannes«, sagte er.
»Warum?« Ruppert behielt den Strick in den Händen und stellte sich breitbeinig vor den Obermelker.
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