Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Beim nächsten Mal sind wir dran, wenn du nichts tust.«
Wolfgang nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Gewalt widerstrebt mir.«
»Es geht in dieser Stunde nicht um deine Befindlichkeiten, Vater. Auf dem Antonien-Gut wurde der Herr hingemeuchelt. Soll uns dasselbe widerfahren? Denk wenigstens an Mutter.«
Malu betrachtete ihren Vater aufmerksam. Auch sie dachte an Cäcilie von Zehlendorf. Dick war sie geworden in den letzten Jahren, die einst so schöne Freifrau. Dick und übellaunig und kränklich. Ihr Körper war aufgeschwemmt. Manchmal dachte Malu, dies käme von den vielen ungeweinten Tränen, die sich nun in ihrem Körper Platz schafften. Und der schmale Mund, stets zum Strich gepresst, wäre so, um die Schreie, die in der Freifrau gellten, zurückzuhalten. In den ersten Jahren hatte sie gelitten unter der Zurückweisung der Mutter, vor allem unter ihrem Schweigen. Seit einiger Zeit tat Malu das nicht mehr. Im Gegenteil. Das Schweigen, die Missachtung, die leeren Blicke – all das langweilte sie unsäglich. Sie fühlte sich nicht mehr bestraft, sondern belästigt. Unerträglich belästigt. Jahrelang hatte sie die stummen und weniger stummen Vorwürfe ertragen. Jahrelang hatte sie nur verletzt zu Boden geschaut, wenn die Mutter von ihr sprach. Die »Kalamität« hatte sie Malu genannt. So oft, dass Malu vor Jahren geglaubt hatte, dieses Wort wäre ihr Name. Sie konnte sich nicht mehr genau an den Tag erinnern, als ihre Tante Camilla gestorben war. Und sie wusste nichts von einem Katapult, mit dem sie auf die Kutschpferde geschossen haben sollte. Doch wenn alle sagten, dass es so gewesen sei, dann hatte es sich wohl auch so ereignet. Und eine Mörderin würde nie frei sein von Schuld, ihr ganzes Leben lang nicht. Aber war es die Aufgabe ihrer Mutter, sie ständig daran zu erinnern? Jeden Tag, jede Stunde, jeden einzelnen Atemzug lang? Womöglich war das Gottes Gerechtigkeit, trotzdem konnte sie nichts gegen das Gefühl der Belästigung und des Überdrusses tun.
Seit sie denken konnte, träumte sie von ihrer Großtante Camilla. Es war immer derselbe Traum. Sie sah die stürzende Frau, hörte das Wiehern der Pferde, den Aufschrei des Kutschers. Und sie sah den letzten Blick der alten Frau. Er war voller Verwunderung und Schmerz. Jedes Mal wachte sie dann schweißgebadet auf und weinte sich hinterher zurück in den Schlaf, weil es so schwer war, mit dem Wissen zu leben, eine Mörderin zu sein. Wie oft hatte sie Gott um Vergebung gebeten, wie oft war sie heimlich zu Camillas Grab geschlichen, hatte jedes einzelne Unkraut herausgezupft und der Toten Blumen gebracht! Trotzdem verging kein einziger Tag, an dem Malu nicht voller Schuldgefühle daran dachte. Und ihre Mutter ließ keine Gelegenheit aus, sie an ihre schreckliche Tat zu erinnern.
Doch inzwischen war sie es, die ihrer Mutter aus dem Weg ging, sie mied, wo sie nur konnte. Malu floh regelrecht, und jeder Gedanke daran, wie sie das Herz ihrer Mutter für sich zurückerobern konnte, war verflogen. Sie war froh, dass Cäcilie immer öfter im Kurbad weilte.
»Was hat die Hinrichtung des Russen mit Mutter zu tun?«, fragte sie.
Ruppert verdrehte die Augen, als hätte sie eine ganz und gar unsägliche Frage gestellt. »Willst du das wirklich wissen? Willst du, dass ich es ausspreche?«
»Ich bitte dich darum.«
»Nun, dann soll es so sein. Mutter leidet unter Vater.« Er wandte den Blick von ihr ab und sah Wolfgang von Zehlendorf in die Augen. »Ja, du hast recht gehört, Vater. Sie hätte einen starken Mann an ihrer Seite gebraucht. Doch geheiratet hat sie einen Schwächling. Jetzt könntest du beweisen, dass du fähig bist, die Deinen vor Leid und Ungemach zu schützen.« Er deutete herausfordernd auf seinen Vater.
Wolfgang stand auf. »Es tut mir sehr leid, dass deine Mutter nicht glücklich ist«, erklärte er steif. »Gott weiß, ich würde alles geben, um sie wieder lachen zu sehen. Ich vermag es offenbar nicht. Aber ich werde nicht töten, um deiner Mutter eine Freude zu bereiten. Wenn du es willst, so tu es. Eines Tages wirst du ohnehin der Herr von Zehlendorf sein. Aber mich lass aus dem Spiel.« Tief gekränkt verließ er das Zimmer.
Ruppert sah ihm nach und schnaubte verächtlich. Er stand auf und goss sich von dem französischen Weinbrand reichlich ein, den Wolfgang von Zehlendorf hütete wie den eigenen Augapfel. »Er ist jämmerlich, Malu. Heute und gestern und wahrscheinlich morgen auch noch. Kein Wunder, dass Mutter so an ihm
Weitere Kostenlose Bücher