Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Weitem einen sich nähernden Reiter. »Der Doktor kommt!«, rief sie.
Frau Mohrmann faltete kurz die Hände, sah zur Decke und flüsterte: »Danke, Herr!«
Johann und Wolfgang von Zehlendorf trugen Pfarrer Mohrmann behutsam in das Wohnzimmer und legten ihn auf das Sofa. Dann stellte Matthus mehrere Rippenbrüche, einen Arm- und Kieferbruch sowie eine leichte Gehirnerschütterung fest.
»Was der Mann jetzt braucht, ist absolute Ruhe«, befahl der Arzt.
Langsam, die Gewehre geschultert, gingen Malu und ihr Vater zum Gutshaus zurück. »Was wirst du mit denen machen, die Pfarrer Mohrmann das angetan haben?«, fragte sie.
Zehlendorf schüttelte sich ein wenig. »Tja. Ich werde hart durchgreifen müssen. Eine Belohnung setze ich aus auf die Ergreifung der Verbrecher. Und dann? Ach, Kind, ich weiß es nicht. Gewalt ist mir ein Gräuel. Aber wende ich sie nicht an, tanzt mir bald jeder auf der Nase herum.«
Den Rest des Weges schwiegen sie. Kaum hatten sie die Auffahrt betreten, sahen sie, dass sich das Gesinde vor dem Herrenhaus versammelt hatte. Ein paar drohten mit den Fäusten, andere riefen Parolen. Oben, im Schlafzimmer von Wolfgangs Frau, schlug Ilme laut krachend die hölzernen Läden zu.
»Jetzt ist es so weit«, bemerkte Malu und blieb stehen. Die Angst kroch ihr über den Rücken. Die Haare an ihren Armen stellten sich auf, und ihr Atem ging rascher. Sie schluckte. »Was sollen wir tun, Vater?«
Wolfgang von Zehlendorf war noch bleicher geworden. Er presste den Mund fest zusammen, dann seufzte er tief. »Wir müssen da durch, Malu. Jetzt hilft uns nur noch Gottvertrauen.«
»Denkst du, sie werden uns etwas tun?« Ihre Stimme klang klein und blass. Sie fühlte sich wieder so einsam und verloren wie damals, als sie sich im Wald verlaufen hatte. Die Leute da, die vor dem Herrenhaus standen, das waren doch ihre Freunde! Sie sah Nina unter ihnen. Nina, die Wäschemagd, auf deren Schoß sie früher so oft gesessen hatte. Und da war Will, der Kutscher, der ihr immer über das Haar strich, wenn sie an ihm vorüberlief. Jetzt hatten sie zugesperrte Gesichter, verkniffene Münder und geballte Fäuste. Malu konnte nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte.
Der Vater nahm ihr das Gewehr ab und stellte es zusammen mit seinem an einen Baum. »Wir werden ihnen unbewaffnet gegenübertreten. Sie sind brave Leute und tun jetzt nur, was alle anderen auch tun.«
Seine Stimme zitterte ein wenig bei diesen Worten, und Malu verstand, dass auch er nicht ohne Angst war. Ruhig bahnten sie sich einen Weg durch die aufgebrachten Menschen.
Wolfgang von Zehlendorf schritt die Freitreppe hoch und blieb oben stehen. »Nu, was ist? Was wollt ihr mir sagen?«, rief er in die Menge.
»Eene Revolution wollen wir. Jenau wie in Riga und in St. Petersburg!«, rief der Obermelker, schüttelte die Faust und trat vor.
»Un wie haste sie dir vorjestellt, die Revolution?« Wolfgang verfiel in den Dialekt der Gegend. Ruhig blickte er den Obermelker an, bevor er weiterfragte: »Nu, sprich, watt soll anders sein?«
Der Obermelker spitzte den Mund und sah sich hilflos um. »Wir wollen auch in seidenen Kissen schlafen!«, rief er.
»Datt lässt sich wohl machen, wenn es denn unbedingt soll sein. Watt für ein Seidenkissen hätteste denn jerne?«
Der Obermelker schüttelte den Kopf. »Ich selbst will ja jar keines. Aber leben wollen wir wie Ihr, gnädijer Herr.«
»Auch dett kannste haben, Melker. Dann musste schreiben und lesen, dann biste verantwortlich für alle die, die hier stehen. Musst dafür sorjen, datt sie zu essen und zu trinken haben, datt die Kinder een Arzt kriejen, wenn sie krank sind. Und du musst gucken, datt alles auf dem Jut so läuft, dass es Jeld abwirft. Bestimmt hast du schon jesehen, datt abends bei mir die Lampe lange brennt, oder?«
»Jo, dett haben wir alle jesehen. Ich sache ja ooch nich, datt der jnädige Herr nich fleißig ist. Ich sache nur, datt wir och mal een janzen Braten haben wollen.«
»Darüber lässt sich reden. Wir können ein Rindvieh schlachten und es am Spieß braten. Dazu kann et Bier jeben. Aber watt is, wenn ihr nächste Woche wieder Rindsbraten essen wollt? Und in der Woche danach und immer so weiter? Watt soll ich dann verkaufen? Wenn wir alles aufessen, kriejen wir auf dem Viehmarkt kein Jeld. Haben wir kein Jeld, kann ich euch nicht bezahlen. Also, ihr könnt entscheiden: Soll ich ein Rind schlachten und am Spieß braten, oder wollt ihr am Jahresende euern Lohn, so wie es üblich
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