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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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»Was ist dir das Leben dieses Mannes wert?«
    »Er ist ein Mensch«, erwiderte der Melker.
    Ruppert zuckte mit den Schultern. »Also gut. Wenn du nicht willst, dass er gehängt wird, steht es dir frei, seinen Platz einzunehmen.«
    Der Obermelker riss die Augen auf, dann sagte er leise: »Gott wird Sie strafen«, und verschwand wieder in der Menge. Gemurmel kam auf, Flüche wurden geflüstert, Ängste in leise Worte gefasst.
    Ruppert ließ seinen Blick über das Gesinde schweifen. Und jeder, den dieser Blick traf, schaute zu Boden. Am Ende spuckte Ruppert aus. Dann drehte er sich um und schlang den Strick um einen weiteren Baum. Das Seil straffte sich, sodass der Verurteilte schon nach Luft schnappte und den Kopf hin- und herdrehte. Ruppert verknotete den Strick am Baum, ging zu dem Russen und stieß mit einem Fußtritt den Stuhl weg. Die Leute schrien auf, und schon hing der Mann in der Luft. Seine Beine zappelten, das Gesicht färbte sich rot und blau. Er riss die Augen weit auf, auch der Mund war zum Schrei geöffnet, doch der Mann starb nicht. Röchelnd hing er vom Ast herab und zappelte mit den Beinen, die Augen quollen ihm aus den Höhlen.
    »Jetzt tut doch etwas, gnädiger Herr!«, rief eine Frau.
    Aber Ruppert stand wie angenagelt da und blickte auf den zappelnden Russen, der sich die Hosen nässte. Aus den Hosenbeinen tropfte es auf die Erde, und der Mann zappelte noch immer mit herausquellenden Augen und aufgerissenem Mund.
    Ruppert war grau geworden im Gesicht. Er sah plötzlich klein und hilflos aus.
    Die Menge hinter ihm wurde lauter. Gemurmel erhob sich, einzelne Worte waren dieses Mal zu verstehen.
    »Das ist grausam!«, rief eines der Milchmädchen.
    Will reckte sich, wedelte mit seiner Kutschermütze und schrie: »Die Russen sind unsere Feinde, aber sie sind doch Menschen!«
    »Geben Sie ihm wenigstens den Gnadenschuss!«, rief der Obermelker. »Das ist unmenschlich, grausam.«
    Doch Ruppert konnte sich nicht bewegen. Er starrte auf den Zappelnden, hörte sein Röcheln und wusste, er würde dieses Röcheln noch lange hören.
    Da wurde im Herrenhaus ein Fenster aufgerissen. Wolfgang von Zehlendorf erschien. Er legte ein Gewehr auf das Fensterbrett, zielte und schoss. Der Gehängte zuckte zusammen, dann hing er still.
    Wolfgang legte das Gewehr beiseite und schloss das Fenster. Ruppert sah beschämt zu Boden. Der Zorn hatte sein Gesicht rot gefärbt, auf seiner Stirn schwoll eine Ader blau an. Das Gesinde zerstreute sich, und obwohl Ruppert den Blick nicht vom Boden nahm, konnte er die Verachtung der Leute spüren. Ihre Blicke brannten in seinem Nacken.
    Ein Windstoß fuhr durch die Auffahrt und ließ den Gehängten leise erzittern. Der Obermelker, der noch immer seine Kappe in den Händen hielt, gab dem Leichnam einen Stoß, sodass dieser zur Seite schwang und mit den Knien gegen Rupperts Kopf stieß.
    Der Getroffene schrie auf und sah mit irrem Blick um sich. »Das wirst du mir büßen!«, brüllte er den Obermelker an.
    Doch der zuckte mit keiner Wimper. »Ich weiß nicht, wer von uns beiden am Ende mehr Buße tun muss«, erklärte er, dann ging er davon.
    Ruppert blieb allein neben dem Leichnam stehen. Als er bemerkte, dass niemand mehr in der Nähe war, rief er: »Kommt zurück! Zwei Männer müssen zurückkommen und den Mann vom Baum nehmen. Na los doch, zwei Männer zu mir.«
    Doch die Leute trotteten bedrückt weiter, als hätten sie ihn nicht gehört. Sie gingen zurück an ihre Arbeit und ließen Ruppert mit dem Leichnam allein.

Siebtes Kapitel
    Baltikum, 1906
    D ie Unruhen im Baltikum flauten langsam ab. Nur hin und wieder war noch von einzelnen Übergriffen zu hören. Die Politik fand in St. Petersburg statt, während das Leben auf den lettischen Gütern wie bisher weiterging.
    In manchen von ihnen wohnte, wie auf Gut Zehlendorf, eine junge Dame, die sich bald zum ersten Mal der Gesellschaft präsentieren sollte. Während in den anderen Gutshäusern ringsum die Schneiderinnen wie Ameisen durch das Haus wimmelten und die Debütantinnen von einer Anprobe zur nächsten hetzten, spürte man auf Gut Zehlendorf nichts von der Einführung einer jungen Dame in die Gesellschaft. Malu hatte von ihrer Mutter lediglich ein paar grundlegende Dinge erfahren: zum Beispiel, dass beim ersten Ball ein weißes Kleid Pflicht sei, welches selbstverständlich von einer ganz bestimmten Rigaer Schneiderin angefertigt werden müsse. Auch zieme es sich nicht für eine junge Dame, Gespräche über die Unruhen auf dem

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