Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
wenn sich die Tänzerinnen bewegten, befühlte hin und wieder den Stoff des Kleides einer Freundin, betrachtete Nähte, Schnitt und den Fall. Das Kleid für ihren Abschlussball hatte sie mit Frau Mohrmanns Hilfe selbst genäht, den Stoff dafür aus Riga kommen lassen. Und nur in diesem Kleid fühlte sie sich ganz als sie selbst.
Dieses himmelblaue, selbst geschneiderte Kleid holte sie jeden Tag aus dem Schrank und ließ es durch ihre Finger gleiten. Viele Wochen hatte sie daran gesessen, hatte zuerst einen Schnitt gezeichnet, dabei unzählige Entwürfe in den Papierkorb geworfen, bis sie endlich zufrieden war. Und dieses Kleid war das einzige, in dem sie atmen und sich frei bewegen konnte, denn es hatte – im Gegensatz zu ihren anderen Kleidern – kein Korsett, das mit Fischstäben verstärkt war und aus festem Jacquardgewebe bestand, versehen mit einer Verzierung aus Seidenspitze an der oberen Kante und mit Strumpfhaltern an der Vorderseite. So jedenfalls sah das Korsett aus, das sie zu den anderen Bällen trug. Ihr himmelblaues Kleid aber war anders. Sie hatte im Journal der Moden , das Wolfgang von Zehlendorf seiner Frau zur Zerstreuung aus Riga mitgebracht hatte, geblättert und darin eine Kreation des Pariser Kleidermachers Paul Poiret gesehen. Dieses Festkostüm – denn ein richtiges Kleid war es nicht – hatte ihr so gefallen, dass sie es nachschneiderte und variierte, bis es zu ihr passte. Das ärmellose Überkleid war unter der Brust gerafft und mithilfe eines Reifens leicht ausgestellt.
Es bestand aus himmelblauer Seide mit silberner floraler Stickerei, bei der Constanze ihr geholfen hatte. Darunter trug Malu einen Rock aus silbernem Seidenstoff, der gerade weit genug war, um beim Tanzen ein wenig zu schwingen, und zugleich zu eng, um eine Krinolie darunter zu tragen. Um den Kopf band sich Malu ein ebenfalls silbernes Seidentuch, das sie über der Stirn mit einer großen Brosche befestigte. Und in jedes einzelne Stück stickte sie ihren Namen. Sie wusste nicht so recht, warum sie das tat. Vielleicht, weil sie sich oft nicht sicher war, ob es sie auch tatsächlich gab, denn wie sollte jemand existieren, der für die eigene Mutter nicht existent war. Wenn sie aber ihren Namen in den Kleidungsstücken sah, wusste sie, dass sie lebte, denn wenn es ein Kleid mit ihrem Namen gab, dann gab es auch sie.
Cäcilie von Zehlendorf war in Ohnmacht gefallen, als sie das Gewand das erste Mal sah. Das Riechfläschchen in Reichweite hatte sie hernach verkündet, sie würde ihre Tochter in diesem Aufzug niemals begleiten, dass aber von einer Kalamität ja auch nichts anderes zu erwarten gewesen sei.
Am Abend vor dem Ball, als Malu das Gewand zum letzten Mal im Hause der Mohrmanns anprobierte, um den Sitz jeder einzelnen Falte zu überprüfen, stürzte Johann in das Nähzimmer seiner Mutter. Als er Malu erblickte, hielt er inne und starrte sie mit großen Augen an.
»Du bist wunderschön, Malu«, sagte Johann mit rauer Stimme.
Er sprach so leise, dass man die Worte kaum hören konnte, doch Malu verstand jede einzelne Silbe. Und sie begriff in diesem Augenblick, dass Johann der einzige Mann war, dem sie gefallen wollte. Als er, vor Verlegenheit hochrot, aus dem Zimmer stürzte, ohne zu sagen, was er gewollt hatte, zog Malu ihr Gewand aus, verpackte es vorsichtig in Seidenpapier und erklärte: »Ich werde zu keinem der anderen Bälle mehr gehen. Alles, was dort zu erreichen ist, interessiert mich nicht.«
Als Malu diese Entscheidung ihrem Vater mitteilte, seufzte er und nahm ihre Hand. »Diese Bälle sind Tradition, und sie sind für Mädchen vom Stande die beste Gelegenheit, sich einen Mann zu suchen, der zu ihnen passt.«
Malu schüttelte verzweifelt den Kopf. »Aber ich will noch gar keinen Mann. Ich weiß nicht einmal, ob ich jemals einen Mann heiraten möchte. Jedenfalls bestimmt keinen von den Ballherren dort.«
»Nicht?« Wolfgang von Zehlendorf zog die Stirne kraus. »Aber was willst du dann?« In seiner Stimme klang Hilflosigkeit mit.
Malu schluckte. »Am liebsten würde ich Schneiderin werden.«
Bei diesem Satz verzog sich das Gesicht des Vaters, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Marie-Luise. Du bist kein einfaches bürgerliches Mädchen. Du bist eine Freiin. Der Name von Zehlendorf verpflichtet dich dazu, standesgemäß zu heiraten, und Ruppert dazu, eines Tages das Gut zu übernehmen.«
»Aber …«
»Schweig still!« Wolfgang von Zehlendorf schnitt ihr das Wort ab. »Ich war dir nie ein
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