Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
schmale Taille gebunden. Er war schlecht rasiert, und das Haar hing ihm in den Nacken. Sein Blick war so brennend, dass Malu die Augen abwenden musste. Es tat weh, ihn so zu sehen.
»Ich gehe weg von hier«, sagte sie. Gerade noch war sie fest entschlossen gewesen, doch jetzt, da sie vor Janis stand, wusste sie, dass ein Wort von ihm genügte, um sie zum Bleiben zu überreden. Ein Wort nur. Ein einziges. Er bräuchte nur zu sagen: »Bleib hier!« Oder: »Geh nicht weg!« Oder: »Ich brauche dich!« Dann würde sie bleiben, würde einziehen in das ärmliche Haus, würde seine Bluse flicken, ihm die Haare schneiden und die Trauer aus den Augen küssen.
Aber er schwieg. Eine ganze, endlose Weile lang.
Dann nickte er. »Wann fährst du?«
Malu schluckte die Tränen hinunter. »Morgen Abend. Erst einmal nach Riga. Dort regele ich meine Angelegenheiten. Und dann nehme ich den Zug nach Berlin.«
Wieder nickte Janis, ohne eine Regung zu zeigen. »Ich fahre dich zum Bahnhof.«
»Oh nein, das ist nicht nötig. Will, der Kutscher, kann mich morgen nach Mitau bringen. Von dort nehme ich den Zug nach Riga.«
»Ich fahre dich«, wiederholte Janis. Dann hob er die Hand, so müde und erschöpft, als wäre er ein uralter Mann bar jeglicher Kraft. »Schlaf gut, Malu. Bis morgen.«
Er machte Anstalten, die Tür zu schließen, doch da erklang eine Stimme aus dem Inneren des Hauses. »Bist du das, Malu?«
Constanze kam heran, hielt ein Geschirrtuch in der Hand. Manchmal half sie ihrem Bruder bei der Arbeit im Haushalt. Und an vielen Abenden, besonders in Zeiten, in denen Janis viel zu tun hatte, brachte sie ihm aus dem Pfarrhaus Essen herüber.
Sie nahm Malu an der Hand und zog sie in das Haus. »Ist etwas geschehen?«
Malu nickte und ließ sich am Küchentisch nieder. »Ich gehe fort von hier. Gleich morgen. Nach Berlin werde ich gehen und mir dort ein eigenes Leben aufbauen.«
Constanze klatschte leicht in die Hände. »Du machst es wahr? Deine eigene Schneiderei?«
Malu nickte mit einem traurigen Lächeln. »Ja. Das werde ich tun. Hier ist kein Platz mehr für mich.« Sie blickte Janis bei diesen Worten an und erkannte in seinen Augen eine so abgrundtiefe Trauer, dass sie den Blick rasch abwenden musste.
»Nimm mich mit. Ich bitte dich, Malu, nimm mich mit.« Constanze hatte ihre Hand ergriffen und presste sie, als ginge es um ihr Leben.
»Nach Berlin?«
»Ja. Nach Berlin. Oder Riga. Oder Amerika. Ganz egal. Ich möchte ebenso gern weg von hier wie du. Nikolai ist tot. Hauslehrerinnen und Gouvernanten werden nicht mehr gebraucht. Was soll ich denn tun? Ich bin noch jung, gerade neunundzwanzig Jahre alt, und mein Leben ist hier schon zu Ende. Das kann doch nicht sein, das darf doch nicht sein. Bitte, Malu, nimm mich mit. Ich werde arbeiten. Ich werde alles tun, was du von mir erwartest. Nur nimm mich bitte mit!«
Erst jetzt bemerkte Malu die dunklen Ringe unter den Augen der Freundin, ihre Blässe, die vom Weinen geschwollenen Lider. Ihr war sofort klar, dass Ruppert der Grund für Constanzes Kummer war. Um ihn weinte sie, nicht um Nikolai.
Malu hatte auch schon daran gedacht, wie schön es doch wäre, gemeinsam mit Constanze nach Berlin zu gehen, aber sie hatte nicht gewagt, sie danach zu fragen. Und jetzt, da Constanze es ausgesprochen hatte, freute sie sich.
Sie umarmte Constanze, drückte die Freundin fest an sich. »Ja«, sagte sie, »wir gehen zusammen nach Berlin.«
Keine von ihnen hatte bemerkt, dass Janis das Haus verlassen hatte.
Gebückt lief er über die Weiden, seine Füße schienen ihm so schwer wie Blei. Malu würde fortgehen. Das einzige Licht, das noch in seinem Leben brannte. Es war so viel geschehen in den letzten fünf Jahren. Er hatte so viel Tod und Elend gesehen, so viel Ungerechtigkeit und Verzweiflung erlebt. Er hatte sogar selbst getötet. Aus Angst. Das war etwas, das sich Janis nicht verzeihen konnte. Niemals, in seinem ganzen Leben nicht. Jede Nacht träumte er von dem Deutschen, der plötzlich in einem Waldstück vor ihm gestanden hatte. Und dieser Deutsche war ihm ähnlich gewesen. Die gleiche Haarfarbe, ähnliche Augen. Womöglich hatte auch er nicht in diesen Krieg gewollt, hatte ein Mädchen zu Hause, das er liebte. Eine Mutter, einen Vater, Träume, Pläne, eine Zukunft. Janis sah in jeder Minute seines Lebens den entsetzten Blick aus den Augen des Deutschen, der keinen Tag älter zu sein schien als er selbst.
Bei Gott, er hatte doch nicht töten wollen! Warum auch? Der Fremde
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