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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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sich um sie herum, junge Huren drückten sich an den Hauswänden; und über all dem lag ein Gestank, der ins Haar, in die Haut und sogar in den Mund zu kriechen schien.
    »Berlin ist ein Tollhaus. Ich kann nichts erkennen«, seufzte Constanze erschöpft. »Der Lärm, die vielen Menschen, der Geruch. Ich glaube, ich bekomme gleich Kopfschmerzen.« Mit weinerlichem Gesicht blickte sie zu Malu.
    »He! Hierher!« Resolut winkte Malu einen Mietkutscher herbei. Sie hievte Constanze und das Gepäck auf den Wagen, kaum dass dieser neben ihnen zum Stehen gekommen war.
    »Wo sollet denn hinjehn, Frolleinchens?«
    »Wir suchen ein Hotel. Nichts Besonderes.«
    »Aha. Vastehe. Keene Absteije, aber billisch. Klo offem Gang und so.« Der Kutscher nickte und berührte die Pferde leicht mit der Peitsche. Die Tiere setzten sich in Bewegung und zogen das Gefährt gemächlich durch die Straßen.
    Malu sah mit weit aufgerissenen Augen auf Berlin. Sie sah die Tanzpaläste, die Casinos und feinen Restaurants, die Varietés, Theater und Lichtspielhäuser. Sie erblickte gut gekleidete Menschen, die aus prächtigen Häusern traten, Automobile jeder Art, sogar eine Straßenbahn sah sie. Und immer mehr Menschen und Geschäfte.
    Sie fuhren einige Zeit, ehe das Straßenbild sich langsam veränderte. Jenseits des Kurfürstendammes, dort, wo der Damm in die Kurfürstenstraße überging, wurde es ruhiger. Die Häuser wirkten grau und ein wenig schäbig. Vor den Läden standen lange Schlangen verhärmter Frauen, die offensichtlich nichts mehr ersehnten als einen Laib Brot und eine Kanne Milch für ihre Kinder. Jungen stießen einen Lumpenball über die Gasse, kleine Mädchen hüpften über ein Seil. Die Kinder hatten graue Gesichter und viel zu große Augen. Ihre Kleider waren abgetragen, und die meisten von ihnen liefen barfuß.
    Malu spähte im Vorbeifahren durch ein offenes Tor in einen Hinterhof. Sie traute ihren Augen nicht, als sie hinter dem ersten Hof noch einen zweiten und einen dritten erkennen konnte. Ausgebleichte, fadenscheinige Wäsche hing aus den Fenstern. Müll säumte die Straßen, und Malu kreischte leise auf, als sie die erste Ratte über die Gasse huschen sah. Um nichts in der Welt würde sie hier leben wollen! Hier in all dem Dreck.
    Eine Frau stand auf dem Bürgersteig und brüllte mit erhobenen Fäusten auf einen Mann ein. »Hab ick dir nich jesacht, datte det Jeld nich versaufen tun sollst? Watt soll ick jetzt einkoofen?« Tränen der Verzweiflung rannen über ihr Gesicht, während sie auf den Mann eindrosch.
    Aus einer Eckkneipe torkelten zwei Männer, sie fielen auf das Trottoir und blieben ineinander verkeilt liegen. Ein dürrer Hund rannte vorbei, hob das Bein und pisste auf den Rücken des einen.
    Malu schüttelte den Kopf. Sie hätte sich am liebsten über die Augen gewischt, um die Spukbilder zu vertreiben, doch sie wusste allzu gut, dass dies hier die Wirklichkeit war.
    »So, jnädije Frolleins, da wärn wir.« Der Kutscher hielt vor einem Haus.
    Es war so schäbig, dass Malu es zunächst für eine Ruine hielt. Erst jetzt sah sie das Blechschild mit der Aufschrift: »Pension zum Stern. Frühstück und Abendbrot. Wasserklosett.«
    Malu sah an dem Haus hoch. Nur im ersten Geschoss waren zerschlissene Gardinen an den Fenstern. Die übrigen waren mit Zeitungspapier beklebt. Ganz oben hatte irgendwer Latten an die Rahmen genagelt. Im zweiten Stockwerk war eine einzelne verwelkte Pflanze zu erkennen, und im dritten blickte eine dicke Frau mit Schürze und Kopftuch aus einem der Fenster. Ihre Brüste quollen über das Fensterbrett wie gewaltige Kürbisse. Ihr Gesicht war rot wie gekochter Schinken, wirkte aber freundlich.
    »Na, Kalle, watt bringste denn heute?«, rief sie dem Kutscher zu.
    »Zwei Damen aus dem Baltikum. Haste noch Zimmer übrig, Mutter Glubschke?«
    Die Frau beäugte Malu und Constanze. Es dauerte einen Augenblick, aber dann hatte sie sich ein Urteil gebildet. »Een Zimmer hab ick noch. Wenn se dett beede zusammen haben woll’n, soll ’s mir recht sein.«
    Der Kutscher drehte sich um und sah Malu auffordernd an. »Watt Besseret wärn Se nich kriejen.«
    Malu schluckte. Sie hatte ein wenig Geld vom Verkauf ihrer Sachen, doch davon wollte sie sich eine neue, modernere Nähmaschine kaufen und sich die ersten Monate damit über Wasser halten. Die Unterkunft hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Hell, sauber, inmitten der Stadt. Nicht hier, wo die Armut in jedem Winkel hockte.
    Sie schüttelte den Kopf.

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