Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
hatte ihm nichts getan.
Noch immer spürte Janis die Angst in seinen Knochen und in den Gliedern des anderen, roch den Gestank des Schießpulvers, die sauren Ausdünstungen des anderen und des eigenen Körpers, hörte den Schlachtenlärm in den Ohren. Und die Angst war es auch gewesen, die ihn schießen ließ. Es war so schnell gegangen. Eher ein Reflex als eine bewusste Handlung. Janis hatte nicht einmal gemerkt, wie er das Gewehr angelegt und geschossen hatte. Nur diesen Blick sah er noch. Und er hörte den Schrei. Jeden Tag, jede Nacht. Diesen Schrei, der so überrascht klang und zugleich so schmerzvoll. Und dann war der Tote zu Boden gesunken, und Janis hatte angefangen zu zittern. So sehr, dass ihm das Gewehr aus den Händen gefallen war. Und dann hatte auch er geschrien. Lange. Und so laut, dass zwei seiner Kameraden gelaufen kamen. Sie hatten ihn gepackt und wegführen wollen, aber Janis hatte sich losgerissen. Er war zu dem toten Deutschen gegangen, hatte in dessen Gesicht gesehen, das keines mehr war. Er hatte sich neben ihn gekniet und ihm eine Hand auf die Brust gelegt, die so still lag wie ein Stein. Und dann hatte er gebetet.
Sein Leben war nicht mehr sein Leben seit diesem Tag. Er hatte getötet, war es nicht mehr wert, geliebt zu werden und zu lieben.
Am liebsten hätte er Malu in seine Arme gezogen, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben und sie gebeten, bei ihm zu bleiben. Für immer. Vor dem Krieg hätte er das gekonnt. Nichts wäre ihm lieber gewesen. Malu, das Licht seines Lebens. Aber nun war er ihrer Liebe nicht mehr würdig. Nicht nur ihrer. Der eines jeden Menschen auf der Welt. Und es geschah ihm recht, dass sie ging. Auch, dass sie Constanze mitnahm. Er hatte es nicht anders verdient. Und doch war ihm das Herz so schwer, dass er es kaum tragen konnte in seiner Brust. Das war die Strafe. Und Janis war gewillt, diese Strafe zu ertragen wie ein Mann.
Dreizehntes Kapitel
Berlin, 1920
B erlin! Berlin! Wie schön die Stadt doch war! Groß, laut, bunt und schillernd. Und wie schrecklich zugleich. Constanze und Malu hatten den Bahnhof noch nicht verlassen, als sie schon die ersten Bettler und Kriegsversehrten sahen. Gleich neben ihnen stand einer, dem ein Bein fehlte. Er hing mehr in Holzkrücken, als dass er stand, und hatte einen Blechnapf in der Hand, den er den Vorübereilenden entgegenstreckte.
»Einen Pfennig für einen Kriegsversehrten«, murmelte er. Seine Augen waren erloschen.
»Hier!« Malu kramte in ihren Taschen und legte eine Reichsmark in die Blechschüssel.
Der Mann sah auf. »Sind die Damen fremd in Berlin?«
»Wir kommen aus dem Baltikum«, antwortete Malu.
»Dann passen Sie mal gut auf sich auf.«
Malu und Constanze nickten. Sie hatten diese Ermahnungen vor ihrer Abreise überall gehört. Frau Mohrmann hatte sie vor den jungen Männern gewarnt, Ruppert vor den anrüchigen Lokalen, und die Nachbarn hatten sich über die losen Sitten in der Hauptstadt ausgelassen, von denen sie in der Zeitung gelesen hatten. Doch das alles hatte Malu und Constanze nicht schrecken können. Sie wollten Berlin erobern, wollten zeigen, dass auch junge Frauen vom Lande nicht hinter dem Mond gelebt hatten.
An der nächsten Ecke stand ein kleiner Junge. Er war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Vor seiner Brust hing ein Bauchladen mit Zigarren. Er pries seine Ware an, doch das Stimmchen war zu schwach, um gehört zu werden. Der kleine Junge war barfuß, und Constanze wies Malu auf seine blau gefrorenen Zehen hin.
Plötzlich erhob sich Geschrei. Ein junges Mädchen, viel jünger als Constanze und Malu, rannte über den Bahnhofsvorplatz. Ihr Gesicht war stark geschminkt, das Mieder halb offen. In der Hand hielt sie eine Börse, und hinter ihr hetzte ein Mann mit rotem Gesicht.
»Haltet sie!«, schrie er. »Die Hure hat mich bestohlen.«
Eine ältere Dame mit resolutem Aussehen versperrte dem Mann den Weg. »Dett haste nu davon, wenn de deine Olle mit ’ner Hure betrügst«, keifte sie.
Constanze und Malu wandten sich ab und suchten nach einer Mietdroschke. Neben ihnen hatte ein Leierkastenmann seinen Karren abgestellt und grölte mit lauter Stimme Berliner Gassenhauer. Etwas weiter links verkaufte jemand Bratwürste. Ein Blumenmädchen trug einen Korb an ihnen vorbei und rempelte Malu dabei rüde zur Seite. Zwei alte Frauen standen beieinander und schrien sich die neuesten Neuigkeiten ins Gesicht. Daneben brüllten Zeitungsjungen die aktuellen Schlagzeilen aus, Schuhputzer drängelten
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