Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
»Ich hatte an etwas anderes gedacht«, erklärte sie dem Kutscher so höflich wie möglich.
Der Kutscher wiegte den Kopf hin und her. »Berlin is volljestoppt mit Fremden. Die Hotels kosten mehr als nur Jeld.« Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »Hier isset sauber. Un Mutter Glubschke passt uff, dett nüscht passiert. Aber wenn Se unbedingt wollen, dann fahre ick halt weiter.«
Constanze, die bisher geschwiegen und nur mit großen Augen aus der Kutsche geschaut hatte, legte Malu eine Hand auf den Unterarm. »Ich finde es hier nicht so schlimm. Eine Unterkunft in der Stadtmitte ist sicher unerschwinglich. Und die Vorstädte werden sich alle ähnlich sehen.«
»Da hatt dett Frolleinchen recht«, stimmte der Kutscher zu. »Vornehme Jejenden jibt dett hier nich so ville. Aber ick kann Se ooch nachem Jrunewald fahren, wenn Se woll’n.«
Malu zweifelte noch immer, doch sie gab schließlich Constanzes Drängen nach: »Gut, wenn du willst.«
Der Kutscher half ihnen mit dem Gepäck, und wenig später standen sie Mutter Glubschke gegenüber.
»So, meine Frolleinchen. Hier is der Schlüssel. Herrenbesuch jibt ett bei mir nich, ick bin ein anständijes Haus. Wäsche waschen nach Plan, zum Monatsersten die Miete, und im Winter dazu von jeder zehn Briketts inne Woche. Jekocht wird nur, wenn’s nötisch is, ansonsten sin’ meine Küche und meine Wohnstube tabu. Allet klar?« Die Frau besaß eine kräftige Stimme und hatte mit Nachdruck gesprochen. Selbstbewusst verschränkte sie ihre Arme vor der Brust und musterte Constanze und Malu ungeniert. »Na, ihr zwee beeden habt och noch nich so ville vonne Welt jesehen, wa?«
Malu nickte.
»Na denn passt man jut uff euch uff.«
Mutter Glubschke stieß eine Tür auf und deutete ins Innere. »So, det is nu euer Zuhause. Macht mir nüscht kaputt. Und viel Spaß in Berlin.«
Sie gab Constanze einen leichten Stoß, sodass diese ins Zimmer taumelte, und schloss hinter Malu die Tür.
Constanze drängte sich gegen Malu, denn das Zimmer war so schmal, dass sie zu zweit nicht nebeneinander stehen konnten. Links und rechts befanden sich recht große Betten, die mit prallen Kissen bedeckt waren. Unter dem Fenster stand ein kleiner Tisch, rechts neben der Eingangstür ein hölzerner Schrank und links eine Kommode mit Waschgeschirr. Es gab weder Gardinen noch einen Läufer auf dem Dielenboden. Eine einzelne Lampe hing von der Decke, und der Blick zum Fenster hinaus ging auf den Hinterhof.
Malu musste das Fenster öffnen und sich weit hinausbeugen, um über den Hinterhöfen und Häusern, die sich hintereinanderreihten, ein Stück Himmel sehen zu können. Von gegenüber erklangen Kindergeschrei und das Gezeter einer Frau. Unten stieß jemand die Asche- und Müllkübel über das Pflaster. Aus einem Nebengebäude drang der Lärm einer Kreissäge.
»Nicht so schlecht, wie ich dachte«, sagte Malu schließlich mit zusammengebissenen Zähnen.
Constanze schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn, setzte ihr Hütchen ab und deponierte es auf der Kommode. »Wir machen etwas daraus. Wir sind in Berlin, Malu. In der Stadt, in der alles möglich ist. Wir sind hergekommen, um unsere Träume zu verwirklichen. Also lass es uns tun.«
Malu blickte Constanze prüfend an. Seit langer Zeit sah sie wieder ein Leuchten in den Augen ihrer Freundin. »Du hast recht«, erwiderte sie. »Es gibt keinen Grund zur Klage, aber tausend Gründe, endlich anzufangen.«
»Es gefällt dir also?«
»Na ja, man gewöhnt sich an alles.« Malu lächelte. »Kann schon sein, dass mir Berlin mit jedem Tag mehr gefällt.«
Vierzehntes Kapitel
Berlin, 1920
I n den ersten Tagen erkundeten Constanze und Malu die Stadt. Malu war noch immer fest entschlossen, eine eigene kleine Schneiderei zu eröffnen. Constanze dagegen wusste nicht genau, was sie wollte. Halbherzig studierte sie die Anzeigen in den Berliner Zeitungen und musste feststellen, dass Hauslehrerinnen und Gouvernanten nicht gerade gesuchte Berufe waren. Und wenn, so legten die Berliner Wert auf Sprachkenntnisse und künstlerische Talente, doch Constanze konnte weder das eine noch das andere bieten.
Malu drängte sie nicht. Sie war froh, Gesellschaft zu haben. Gleich am ersten Tag hatte sie sich eine Nähmaschine gekauft. In ihrem Hinterkopf entwickelte sie bereits einen Plan, wie sie in der besseren Gesellschaft Berlins Fuß fassen könnte. Doch zunächst musste sie die Berlinerinnen und ihre Wünsche kennenlernen.
Fröhlich spazierte Malu die
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