Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
sah auf seine Hand, die sie am Oberarm noch immer leicht hielt.
Der Mann zog seine Hand zurück. »Bitte verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
Constanze schüttelte den Kopf und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. »Das tun Sie nicht. Es ist so schön, einmal wieder eine Stimme aus der Heimat zu hören.«
»Sie kommen aus Riga?«
»Nein. Nicht direkt aus Riga. Von einem Gut in der Nähe von Mitau.«
»Oh!« Der junge Mann lachte erfreut. »Das ist ja wunderbar. Welches Gut? Ich kenne mich in der Gegend nicht besonders gut aus, aber man hört ja immer wieder etwas von den anderen Anwesen in der Region.«
»Ich bin Marie-Luise von Zehlendorf vom Gut Zehlendorf«, sagte Constanze plötzlich. Sie wusste selbst nicht, wie ihr der Gedanke in den Kopf gekommen war. Doch als sie den Satz äußerte, fühlte es sich für sie so an, als spräche sie die Wahrheit.
»Zehlendorf?«, fragte der junge Mann nach. »Etwa die Tochter Wolfgang von Zehlendorfs?«
Constanze nickte. »Haben Sie ihn gekannt?« Ein Schrecken kroch ihr den Rücken hoch.
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Nur gehört habe ich von ihm. Sein Gut führte er mustergültig. Es tut mir sehr leid, dass Sie ihn so früh verloren haben.«
Constanze nickte. »Es war für uns alle sehr schwer.« Dann zwang sie wieder ein Lächeln ins Gesicht und erklärte betont fröhlich: »Aber nun ist der Krieg vorüber, das Leben muss weitergehen.«
»Sind Sie schon lange in der Stadt?« Der Mann schien wirklich etwas über sie wissen zu wollen.
»Drei Wochen erst.«
»Und wie gefällt Ihnen Berlin?«
Constanze senkte den Blick. »Nun, es ist anders als die Heimat, nicht wahr? Ich vermisse meine Freunde, die Familie.«
»Heißt das, Sie sind ganz allein hier?«
Constanze schüttelte den Kopf. »Eine Freundin begleitet mich. Die Tochter unseres Pfarrers. Sie will hier Schneiderin werden. Deshalb sind wir zusammen gereist.«
Der junge Mann zeigte sich verwundert. »Und Sie haben wirklich noch keinen einzigen Bekannten in Berlin getroffen? Ich denke immer, das halbe Baltikum ist hier. Kaum setze ich einen Schritt ins Theater, bin ich von Bekannten umgeben. Spaziere ich über den Kurfürstendamm, muss ich allenthalben den Hut lüften.« Er lachte. »Manchmal glaube ich, ich wäre noch in Riga.«
»Riga …«, wiederholte Constanze versonnen. Mit einem Mal verspürte sie Heimweh, so sehr, dass es ihr das Wasser in die Augen trieb. »Manchmal wünsche ich mich dorthin zurück. Manchmal wünsche ich mir die alten Zeiten zurück.«
»Wer von uns tut das nicht? Wir alle haben in diesem unseligen Krieg verloren. Auch unser Gut wurde enteignet. Zum Glück war mein Vater vorausschauend und hat das Vermögen rechtzeitig nach Berlin transferiert.«
Von der nahen Kirche schlug eine Turmuhr. Der Mann zog seine Taschenuhr hervor und blickte darauf.
»Oh, verzeihen Sie mir bitte, ich wollte Sie wirklich nicht aufhalten«, stammelte Constanze.
»Aber nein, das haben Sie nicht getan. Ich bin zu einer kleinen Abendgesellschaft eingeladen. Bei Freunden. Sehen Sie, dort oben wohnen sie.«
Er zeigte auf das Fenster, das Constanze zuvor sehnsüchtig betrachtet hatte.
»Es sind Freunde aus dem Baltikum. Die meisten kommen aus Estland, aber es sind auch ein paar darunter, die in Lettland gelebt haben. Ich möchte wirklich keinesfalls unhöflich sein, aber es wäre mir eine große Ehre und ein Vergnügen, wenn Sie mich dorthin begleiten würden.«
Constanze schnappte unauffällig nach Luft. Genau das hatte sie sich gewünscht! Hatte Gott sie etwa erhört?
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie zögerlich. »Ist es nicht unhöflich, uneingeladen irgendwo hereinzuschneien?«
»Aber nein, wo denken Sie hin! Ich bin sicher, alle würden sich freuen, Sie zu treffen.«
»Aber meine Kleidung. Ich bin nicht richtig angezogen.«
»Oh, machen Sie sich deshalb bitte keine Gedanken. Wir sind ganz informell. Ich bitte Sie, tun Sie mir den Gefallen!«
Seine Stimme klang so nett und so warm. Außerdem war Constanze es nicht gewohnt, jemandem einen Wunsch abzuschlagen. Und einem Mann schon gar nicht. Und ganz besonders dann nicht, wenn sich dessen Wunsch heimlich mit ihrem deckte. »Also gut«, stimmte sie zu.
Er streckte die Hand aus, verbeugte sich ein wenig. »Verzeihen Sie, ich vergaß, mich Ihnen vorzustellen: Lothar von Hohenhorst.«
Fünfzehntes Kapitel
Berlin, 1920
W o sind wir hier eigentlich?«, wollte Constanze wissen, als sie neben Lothar von
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