Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
Hohenhorst die breite Eingangshalle mit dem Marmorboden durchschritt.
»In Berlin-Charlottenburg«, erklärte er. »Genau gesagt: in der Fasanenstraße. Es ist zwar nicht die allerbeste Gegend, aber sehr zentral. Ich selbst wohne nur zwei Straßen weiter, in der Kantstraße. Natürlich wäre mir der Grunewald lieber, doch die Stadtnähe ist auch nicht zu unterschätzen.« Er lachte. »Aber in den Grunewald kann ich noch immer ziehen, wenn ich eine Frau und Kinder habe. Jetzt aber bin ich lieber in der Nähe der Varietés und Clubs.«
Constanze nickte lächelnd.
»Und Sie? Wo wohnen Sie?«
Für einen Augenblick wusste Constanze nicht, was sie sagen sollte. Unmöglich konnte sie ihm die Straße nennen, in der sie mit Malu in der winzigen Kammer lebte. Aber andere Straßen kannte sie nicht. »Wir … meine Freundin und ich wohnen derzeit noch in einem Hotel. Unsere Wohnung muss erst noch eingerichtet werden.«
»Im Adlon?«
Constanze kannte sich in Berlin nicht aus, aber vom vornehmen Adlon hatte selbst sie schon gehört. Es musste wundervoll sein, dort zu leben. Einen Augenblick lang war sie versucht zu nicken, aber eine innere Stimme riet ihr davon ab. Sie hatte heute Abend schon gelogen, sich als eine Adlige ausgegeben, die sie nicht war. Und jetzt musste sie weiterlügen, aber übertreiben durfte sie dabei nicht.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht im Adlon. Wir sind aus dem Baltikum, nicht aus der ›Goldenen Stadt‹.« Sie kicherte.
»Nun, es ist ja nicht für immer.« Lothar von Hohenhorst lächelte freundlich. »Vielleicht erlauben Sie mir, Ihnen meine Aufwartung zu machen, wenn Sie fertig eingerichtet sind?« Er bot ihr seinen Arm. »Gehen wir!«
Sie stiegen die Treppe empor, und mit jeder Stufe wurde die Musik lauter. Jemand spielte sehr schnell auf dem Klavier; Stimmen überschlugen sich, Frauen lachten.
Als der Lärm am lautesten war und Constanze dachte, dass sie ihr eigenes Wort nicht mehr verstehen würde, waren sie vor einer zweiflügeligen Wohnungstür angelangt, die ein vergoldeter Klopfer zierte.
Zu Constanzes Erstaunen stieß Lothar von Hohenhorst die Tür auf, die nur angelehnt gewesen war, schob Constanze vor sich her, und schon befand sie sich mitten im Trubel.
Im Korridor lehnten zwei magere Frauen an der Wand. Beide rauchten lange dunkle Zigaretten aus Spitzen mit vergoldeten Mundstücken. Eine hatte das Haar schwarz gefärbt und im Pagenstil geschnitten. Ihr Mund war blutrot geschminkt, und die Augen mit einem schwarzen Stift umrandet. Sie sah, fand Constanze, irgendwie krank aus, so als hätte sie gerade die Schwindsucht überstanden. An den Ohren der Frau hing langes Geschmeide, das ihr beinahe bis auf die Schultern reichte. Sie trug ein schwarzes Kleid, das bis zur Hüfte locker fiel und dann in einem knielangen Faltenrock endete. Ihre Arme waren mit klirrenden Reifen geschmückt.
Die andere Frau trug das Haar ebenfalls kurz, doch es war in weiche rote Wellen gelegt. Ihr Kleid war apfelgrün und wurde in Hüfthöhe von einer seidenen Schärpe gehalten, die mit großen Glitzersteinen bestickt war. In der rechten Hand hielt sie einen Spazierstock mit silbernem Entenkopf, und auch ihre Arme waren über und über mit silbernen Reifen geschmückt. Dazu trug sie Seidenstrümpfe und Schuhe, die sehr spitz und ebenfalls apfelgrün waren. Um die Schulter hatte sie ein Tuch aus Seide gelegt.
Constanze sah an sich herab, fand sich selbst brav und provinziell. Noch vor einer Stunde hatte sie sich Malu gegenüber abfällig über die Kleider geäußert, wie sie hier in der Wohnung getragen wurden. Doch nun musste sie zugeben, dass sie diese Mode nicht mehr vulgär, sondern aufregend fand. Sie strich sich über ihren dunkelblauen Rock, der altmodisch bis zum Boden reichte, drehte den Hals in der weißen Bluse mit dem hohen Kragen und strich sich über ihr langes blondes Haar, das am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden und von einem breiten Hut geschützt war.
Die beiden jungen Frauen unterbrachen ihr Gespräch und wandten sich Constanze zu. »Frisch aus der Heimat?«, fragte die mit dem schwarzen Pagenkopf.
»Wie bitte?«
»Du bist sicher geradewegs aus dem Baltikum hierhergekommen, nicht wahr?«
Constanze fuhr zusammen, weil sie einfach so geduzt wurde, doch dann nickte sie. »Ich bin erst seit drei Wochen hier.«
Sie blickte sich suchend nach Lothar von Hohenhorst um. Erleichtert sah sie, dass er mit zwei gefüllten Gläsern auf sie zukam. »Ihr habt euch bereits bekanntgemacht?«
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