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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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mehr wahrnimmt?
    Auf einmal hielt sie es mit Malu und ihrer Nähmaschine nicht mehr in einem Raum aus. Mit einem Schlag begriff sie, dass Malu sehr gut ohne sie zurechtkam. Sie aber brauchte Malu. Brauchte irgendjemanden. Sie war wie der Teil eines Ganzen auf der Suche nach ihrem passenden Gegenstück. Sie war nicht so stark wie Malu, hatte nicht deren Ehrgeiz oder gar deren Willen. Bislang war ihr Dasein immer nur durch ihre Verbindungen mit anderen bestimmt gewesen: Sie hatte gelebt als Tochter ihrer Mutter, als Gehilfin des Doktors im Lazarett, als Rupperts Geliebte und Malus Freundin.
    Sie lief durch die Straßen, vorbei an den langen Schlangen vor den Geschäften, wo Frauen mit müden grauen Gesichtern standen. Nein, dachte sie und erschrak zutiefst. Wenn die Freiheit so müde und grau ausschaut, dann soll sie bleiben, wo sie ist. Ich will sie nicht.
    Direkt vor ihr fiel ein Kind hin, schlug sich die Knie auf und blieb weinend liegen. Constanze half dem kleinen Jungen auf die Füße, wischte ihm mit ihrem Taschentuch den Rotz von der Nase und strich ihm über die Wange. »Weine nicht«, flüsterte sie. »Es ist nur ein Kratzer. Du willst doch ein Mann werden, nicht wahr?«
    Der Kleine nickte.
    »Ein Mann, weißt du, ein Mann, der kennt keinen Schmerz, der kennt keine Tränen.«
    Sie merkte nicht, dass sie selbst weinte. Der Kleine erschrak über ihre Tränen, machte sich los und rannte zu seiner Mutter, einer Frau mit schmalem Mund und dürren Gliedern. Er klammerte sich an ihre Beine und schaute Constanze entsetzt an.
    Constanze versuchte ein Lächeln und lief schnell weiter. Nur fort von diesen Frauen, die so geschäftig waren, so bemüht, alles am Laufen zu halten, und jeden Tag damit aufs Neue scheiterten.
    Sie rannte so schnell die Straßen entlang, dass sie außer Atem geriet. Sie wollte weg, weg von dieser Armut, weg von diesem Elend. Nein, sie war nicht wie Malu. Und wenn sie die Freundin auch bewunderte, so wollte sie doch niemals sein wie sie.
    Irgendwann blieb sie erschöpft stehen, presste beide Hände gegen die schmerzenden Seiten und rang nach Atem. Dabei bemerkte sie, dass sich das Straßenbild geändert hatte. Die Häuser waren prächtiger, neuer, mit strahlenden Fassaden und Haustüren mit goldenen Klopfern. An vielen Eingängen standen uniformierte Conciergen, bereit, Hausbewohnern und Gästen die Tür aufzuhalten. Die Straßen waren gepflastert und so sauber, dass man davon hätte essen können. Aus einem offenen Fenster klang Klavierspiel und das Lachen einer Frau.
    Sehnsüchtig schaute Constanze hoch. Sie nahm im Licht eines Kronleuchters Schemen war, die tanzten. Jemand sang ein Revuelied.
    Constanze lehnte sich an einen Baum und sah weiter hinauf zu dem offenen Fenster, dessen helle Vorhänge sich leicht bauschten. Sie wünschte sich so, dort zu sein, dass sie vergaß weiterzugehen. Sie summte die Melodien mit, schloss die Augen und sah sich selbst in den Armen eines gut gekleideten Mannes zu den Walzerklängen tanzen.
    »Ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?« Eine Stimme schreckte sie aus ihren Träumen. Eine Stimme mit baltischem Einschlag.
    Constanze schrak auf und öffnete die Augen. »Nein«, murmelte sie. »Mir kann niemand helfen.«
    Der Mann mit dem baltischen Akzent beugte sich zu ihr. »Soll ich mich um ein Glas Wasser für Sie kümmern?«
    Erst jetzt betrachtete sie ihn genauer. Er sah aus wie der Sohn eines baltischen Landadligen, das blonde Haar war kurz geschnitten, die hellen Augen ohne Arg auf Constanze gerichtet. Doch seine Kleidung war entschieden eleganter. Er trug einen dunklen Anzug mit Samtbesatz am Kragen, einreihig geknöpft und mit einer weißen Blume am Revers. Darunter blitzte ein weißes Hemd mit Frackkragen hervor. Die Fliege war gekonnt gebunden, und seine schmalen schwarzen Lederschuhe glänzten im Licht der Gaslaterne.
    Constanze lächelte ein wenig. Der Mann, ganz gleich, wer er war, war ein rettender Engel. Sie biss sich auf die Lippen, damit sie sich ein wenig röteten, und stieß sich leicht von dem Baum ab. Dabei geriet sie ins Taumeln, und schon war da ein starker Männerarm, der sie stützte. So sollte es sein, dachte Constanze. Es sollte immer ein Arm da sein, der ein Mädchen stützt. Sie blickte den Mann an und lächelte. »Danke sehr, mir geht es gut. Nur ein leichter Schwächeanfall.«
    »Sie sehen immer noch ein wenig blass um die Nasenspitze aus. Sind Sie sicher, dass Sie kein Wasser benötigen?«
    »Ganz sicher, vielen Dank.« Constanze

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