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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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es Schmuck, den man zumeist geerbt hatte, und Hüte von der Putzmacherin, gestickte Tücher und Westen. Aber hier, im KaDeWe, hingen ganze Ständer voller Damenspazierstöcke mit Griffen aus Gold, Silber, Elfenbein oder bunter Emaille. Sie stieß sogar auf goldene Reifen, die an den Fußgelenken getragen wurden und nur beim Tanzen, wenn die Röcke schwangen, zu sehen waren. Malu befühlte einen Reifen, der wie eine Schlange geformt war. Sie stellte sich diesen Reifen an ihrem Fußknöchel vor und fand es hinreißend. Dazu gab es Schärpen, Gürtel, Kopfbänder, lange auffällige Ketten und Zigarettenetuis samt Spitzen.
    Eine junge Verkäuferin trat auf sie zu. »Kann ich der Dame behilflich sein?« Malu erschrak. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie sich in einem Kaufhaus befand. Ihr juckte es in den Fingern. Wie gerne hätte sie alles sofort gekauft! Wie gerne hätte sie sich auf der Stelle in eine elegante Berlinerin verwandelt! Doch die Sachen waren teuer.
    »Nein, vielen Dank«, erwiderte sie. »Ich möchte mich zunächst nur umschauen.« Auch in der Stoffabteilung war Malu beim Anblick des riesigen Angebotes nicht in der Lage, sich zu entscheiden. Sie verließ erschöpft, und wie es ihr schien, nach endlosen Stunden, das KaDeWe, hatte nur ein paar Zeitschriften erworben: Die Dame und Die elegante Welt , und ein Magazin gekauft, das ganz neu auf dem Markt war und deshalb besonders modern: Styl – Das Berliner Modejournal .
    Als Malu ihre wenigen Schätze nach Hause trug, war ihr Kopf voller Ideen. Schon entstanden vor ihrem geistigen Auge Kleider und Röcke, kurze Jacken und lange Mäntel, Hüte und Westen, Stoffbeutel und Tücher, Schals und Bänder. Sie rannte beinahe nach Hause, konnte es nicht erwarten, die Zeitschriften zu lesen, sich hernach an die Nähmaschine zu setzen und die ersten Entwürfe umzusetzen. Sie hätte gern eine Schneiderpuppe gehabt, doch das Geld musste zunächst für Stoffe und den Lebensunterhalt reichen.
    Constanze saß am Tisch und las die Tageszeitung. Sie suchte noch immer nach einer Stelle als Gouvernante oder Hauslehrerin. Vielleicht würde sie auch eine Anstellung in einem Büro bekommen. Sie hielt einen Bleistift in der Hand und studierte jede einzelne Anzeige mit großer Gründlichkeit. Ab und zu seufzte sie und murmelte vor sich hin: »Nichts. Wieder nichts. Viel zu weit weg.«
    Malu blätterte in einer Modezeitschrift, die Wangen rot, die Augen glänzend vor Eifer und Glück. »Sieh dir das an, Constanze!«, rief sie ein um das andere Mal. »Schau nur, die Schnitte!«
    Constanze blickte auf die Zeitschrift und verzog leicht den Mund. »Ein wenig frivol, findest du nicht?«
    Aber Malu lachte nur auf. »Schlichte, einfache Kleidung. Das ist so wunderbar. Und jetzt, nachdem die Rationierung für Stoffe aufgehoben ist, kann ich endlich aus dem Vollen schöpfen. Schau nur her, diese Mode ist wirklich für Frauen gemacht. Keine Wespentaillen mehr, keine Korsetts, keine Krinolinen. Man kann diese Kleider tragen und dabei essen, sich bewegen, tanzen, sogar mit dem Fahrrad fahren!«
    »Ich finde doch, dass die Kleider ein wenig … ein wenig … zu … unanständig sind für junge Frauen wie uns. Am Ende verwechselt man uns noch mit denen, die ihr Geld in der Horizontalen verdienen.«
    Malu blickte überrascht von ihrer Zeitschrift auf und sah, dass es Constanze ernst war. Sie stand auf, umarmte die Freundin, drehte sich, so gut es ging in der engen Kammer, im Kreis. »Eine neue Zeit hat begonnen«, raunte Malu. »Eine Zeit, in der alles anders ist. Fröhlicher, freier. Und wir Frauen dürfen an dieser Zeit teilhaben! Frauen arbeiten nicht mehr nur als Gouvernanten und Hauslehrerinnen. Sie sitzen in Büros, so wie es früher nur die Männer taten. Sie verkaufen in den Geschäften, sie fahren mit dem Automobil. Es ist die Zeit der Frauen!«
    Constanze verzog den Mund. Natürlich wusste sie, dass es seit dem November 1919 das Wahlrecht für Frauen gab. Sie hatte auch von Rosa Luxemburg gehört, die sich für die Rechte der Frauen einsetzte. Doch das Wahlrecht war ihr gleichgültig. Sie wollte keine Rechte, sie wollte jemanden, der ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte. Trotzdem nickte sie, um Malu den Spaß nicht zu verderben, doch in Wirklichkeit fühlte sie sich unwohl.
    Was soll ich mit der Freiheit anfangen?, überlegte sie betrübt. Freiheit. Pah! Soll ich mich selbst ernähren? Warum soll ich Männer wählen? Was nutzen mir Kleider ohne Korsett, wenn mich darin niemand

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