Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
sie sich mit diesem Thema bisher nicht befasst hatte. Die Jugend war kurz, das mittlere und das spätere Alter lang und voller Abendgesellschaften und Nachmittagstees.
»Was stellen Sie sich für eine reifere Dame vor?«, fragte der Direktor.
Malu sammelte sich einen Augenblick. Sie sah plötzlich ihre Mutter, Cäcilie von Zehlendorf, vor sich.
»Eine Dame im reiferen Alter liebt es, ihre Haut ein wenig mehr zu bedecken. Andererseits haben die meisten dieser Damen ein besonders schönes Dekolleté, das sie ruhig zeigen sollten. In den Hüften sind sie oft ein wenig breiter, schon allein durch die Geburten ihrer Kinder. Also sollte die Hüfte etwas kaschiert werden, dafür die Taille in den Mittelpunkt rücken. Viele der Damen sind noch mit Fischstäbchenkorsetts aufgewachsen. Nun, diese wollen wir natürlich nicht zurück, doch eines darf man nicht vergessen: Mithilfe der Korsetts bekam die Körperform einer jeden Dame etwas Aufregendes.«
Der Schneidermeister nickte. »Sie hat recht. Die meisten Kundinnen lieben diese taillenlosen Kleider nicht.« Er kicherte. »Eine berichtete mir sogar, sie fühle sich darin wie eine Litfaßsäule und habe Angst, mit Plakaten beklebt zu werden.« Er kicherte weiter, verschluckte sich und erhielt vom Reklamechef einen Schlag ins Kreuz.
»Schön und gut«, erklärte der Direktor. »Ihren Ausführungen können wir alle voll und ganz zustimmen. Schließlich kennen wir unsere Kundinnen. Wie aber wollen Sie dieses Problem lösen?«
»Ich …« Plötzlich sah Malu Frau Mohrmann, Constanzes und Janis’ Mutter, vor sich. Die Pfarrersfrau war ihr immer sehr schön erschienen. Viel hübscher als die Mutter, von der es doch hieß, dass sie eine schöne Frau sei.
Was hatte Frau Mohrmann getragen? Unter der Woche meist einen blauen Rock, der bis zu den Knöcheln reichte und einen Bund in Taillenhöhe hatte. Einen Bauernrock. So etwas war sicherlich nicht geeignet für die Damen Berlins. Aber am Sonntag, da hatte sie eine bestickte Bluse getragen. Mit einem v-förmigen Ausschnitt, der ringsum bestickt war und dessen oberer Saum sich zusammenbinden ließ. So konnte Frau Mohrmann je nach Anlass ein Stück ihrer schönen Schulter zeigen oder aber die Bluse fest zuschnüren, sodass dieses Band ihren Hals wie eine Kette umschmeichelte.
»Spitze«, brach es aus Malu hervor. »Eine Spitzenbluse, die so gearbeitet ist, dass die Damen selbst bestimmen können, wie groß der Schulterausschnitt und das Dekolleté sein sollen.«
Der Schneidermeister zog die Augenbrauen nach oben. Der Einkäufer runzelte die Stirn. »Wie soll ich mir das vorstellen?«
»Darf ich?« Malu zog den Schreibblock und den Bleistift des Einkäufers zu sich heran und zeichnete ein paar Striche auf den Block.
Der Direktor verzog das Gesicht. »Das sieht ja aus wie eine Bauernbluse.«
Malu nickte. »Sie haben recht. Und es soll auch eine sein. Zurück zu unseren Wurzeln. Lautete nicht so heute die Überschrift der Berliner Zeitung ? Bodenständig und gut, dazu elegant und selbstbestimmt durch die Spitzen. Bequem, nicht einengend, aber die Vorteile der Figur hervorhebend. Was will eine Frau mehr?«
Der Direktor betrachtete nachdenklich Malus Zeichnung. »Wir können es probieren. Würden Sie uns eine Probebluse nähen und besticken?«
Malu lächelte. »Mit dem größten Vergnügen.« Die Gedanken jagten durch ihren Kopf. »In der Mitte wird die Taille durch eine Schärpe betont. Je nach Bedarf kann diese Schärpe so geformt sein, dass sie von den Hüften ablenkt. Sind die Hüften jedoch schmal, kann die Bluse mit einem Gürtel getragen werden. Ein anderes Modell könnte den Matrosenblusen der Kinder nachempfunden werden. Oder den Uniformen, die, wie Sie ja selbst wissen, meine Herren, einem jeden stehen.« Malu tippte sich an die Stirn. »Geben Sie mir eine Woche Zeit, und ich fertige Ihnen ein Dutzend Entwürfe.«
Der Direktor lächelte nun auch. Er trat zu ihr und reichte ihr die Hand. »Abgemacht. Wir sehen uns in einer Woche wieder. Wir danken Ihnen und freuen uns jetzt schon darauf. Gehen Sie bitte zur Hauptkasse. Ich werde sofortige Anweisung erteilen, dass man Ihnen die besten Stoffe und Materialien heraussucht. Auf Kosten des Hauses natürlich.« Dann neigte er ein wenig nachdenklich den Kopf. »Enttäuschen Sie mich nicht. Meine Frau hält große Stücke auf Sie und Ihre Freundin von Zehlendorf. Wussten Sie eigentlich, dass die Zehlendorfs weitläufig mit meiner Frau verwandt sind? Die Großmutter meiner Frau
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