Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
jeder mit jedem? Du und ich zum Beispiel. Meine Eltern würden sich in ihren Gräbern drehen, wüssten sie, dass ich mit einer Frau ins Bett gehe. Die Hauptsache ist doch nicht, wie oder wen man liebt, sondern dass man überhaupt liebt und geliebt wird. Nicht wahr, meine Rose?«
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Berlin, 1922
C onstanze war noch nie in einem Stundenhotel gewesen. Während sie sich umschaute, erwartete sie, dass die Sünde sie aus allen Ecken anstarrte. Doch das Hotel sah beinahe aus wie jedes andere auch. Ein roter Teppich, vier Sessel als Lobby um einen Clubtisch. Und doch war es anders. Es gab keine Blumen, keine aktuellen Tageszeitungen, keinen Wasserspender. Niemand benutzte die Sessel. Nur im Hintergrund gab es eine Tür, die zu einer Tagesbar führte. Dort saß ein einzelnes Mädchen in einem seidenen Morgenmantel, der mit Papageien bedruckt war, trank einen Schluck aus einem Glas mit brauner Flüssigkeit und ließ einen Pantoffel auf ihren Zehen wippen. Sie wirkte gelangweilt, und als Constanze ihr zunickte, schaute sie weg.
Von oben kam ein Mann im Anzug die Treppe herab. Er richtete im Gehen seine Krawatte und grüßte nicht, sondern huschte blicklos aus der Halle, als fliehe er. Ihm folgte nach zwei Minuten eine Frau, die sich hastig einen Ring aufsteckte. Ihre Frisur saß tadellos, doch ihre Bluse war falsch geknöpft, und die Strümpfe zogen am Knöchel Falten. Sie nickte Constanze knapp, aber im weiblichen Einverständnis zu.
Als der Rezeptionist auftauchte und sie mit unbewegter Miene nach dem Namen fragte, wurde Constanze rot, Ruppert aber antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Freiherr Ruppert von Zehlendorf mit Gemahlin.«
War es nicht das, was sie sich immer gewünscht hatte? Rupperts Ehefrau zu sein? Bei dem Gedanken wurde Constanze wohlig warm. Doch dann fiel ihr ein Sprichwort ihrer Mutter ein: Hüte dich vor den Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen.
Aber war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen? Sie stand nicht im weißen Kleid vor dem Altar, sondern mit verschmierter Schminke an der Theke eines Stundenhotels.
»Sehr wohl, mit Gemahlin«, wiederholte der Rezeptionist. »Stets zu Diensten. Benötigen die Herrschaften sonst noch etwas?«
Constanze verstand nicht. »Was denn?«, fragte sie schüchtern, ohne den Blick zu heben.
»Vielleicht ein Extrahandtuch.« Der Rezeptionist räusperte sich. Dann reichte er Ruppert einen Zimmerschlüssel, beugte sich über die Theke und flüsterte ihm zu: »Wir haben auch Präservative. Sanex. Sollen die besten sein.«
»Nein, danke. Wir benötigen nichts.«
Constanze war erstarrt, als sie das Angebot hörte. Erstarrt und gleichzeitig empört. Was dachte sich der Mann? Sie waren hier als Ehepaar eingetragen! Und er sprach mit Ruppert, als wäre sie eine der Huren vom Bahnhof Zoo!
Ruppert legte den Arm um ihre Schulter. »Komm, Liebes, gehen wir hoch.«
Constanze schluckte und nickte. Plötzlich wollte sie nur noch weg. Sie hatte schon oft mit Ruppert geschlafen, aber damals auf Zehlendorf war sie eine andere gewesen. Früher hatte sie fest daran geglaubt, dass Ruppert, wenn er sie eines Tages heiratete, einen mindestens ebenso guten Fang machen würde wie sie. Doch seit jenem Abend auf Gut Zehlendorf, als sie mit einem Heiratsantrag gerechnet hatte, wusste sie, was er von ihr hielt. Und auch jetzt zerrte Ruppert sie die Stufen hoch, als sei sie ein billiges Mädchen.
Constanze blieb abrupt stehen.
Ruppert stieg noch zwei, drei Stufen weiter nach oben, bevor auch er innehielt und sich zu ihr umdrehte. »Was ist denn jetzt?« Seiner Stimme war der Ärger deutlich anzuhören.
»Ich will nicht«, sagte Constanze.
Ruppert zog die Augenbrauen nach oben. »Du willst nicht? Du? Dein Höschen wurde doch sonst schon feucht, wenn du mich nur gesehen hast.«
»Ich …« Constanze wurde noch kleiner, als sie sich ohnehin fühlte.
Ruppert kam ihr eine Stufe entgegen, legte eine Hand an ihre Wange. Mit einem Mal hatte seine Stimme etwas Einschmeichelndes. »Schatz, was ist los?«, fragte er.
»Das Hotel.«
»Was ist damit?«
»Ich fühle mich wie eine Hure.«
Ruppert lachte auf. »Nein, so solltest du dich nicht fühlen. Schließlich bezahle ich dich ja nicht dafür.«
Constanze schien es, als zerrisse etwas in ihr. Nein, dachte sie, während die Umgebung um sie herum verschwand und sie so willenlos und zerbrechlich wurde wie ein frisch geschlüpftes Küken. Er bezahlt mich nicht dafür. Aber macht das wirklich einen
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