Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
bisschen mehr liebt als der andere.«
Wieder nickte Constanze. »Ich kenne das Gefühl. Aber ich kann nicht aufhören zu glauben, dass sich doch noch alles zum Besten wendet.«
»Wer ist der Mann, der Ihnen das Herz gebrochen hat? Oder ist es eine Dame?«
»Keine Dame, nein. Ich bin wohl in dieser Hinsicht altmodisch. Es ist …« Beinahe hätte sie Rupperts Namen ausgesprochen. Erst im letzten Augenblick fiel ihr ein, dass sie ja als seine Schwester galt. »Es ist ein Mann, den ich seit Kindertagen kenne und liebe. Selbst wenn er manchmal grausam ist – ich bin sicher, dass er ganz tief in seinem Inneren auch mich liebt.«
Andreas Pauly lächelte. »Sie sind eine Romantikerin. Das war ich früher auch. Aber jetzt glaube ich nur noch daran.« Er zog eine kleine Dose hervor, öffnete sie und zeigte Constanze ein weißes Pulver.
»Was ist das?«, fragte sie neugierig.
»Das Vergessen«, erwiderte Andreas und drückte ihr das kleine Behältnis in die Hand. »Meine größte und treueste Liebe. Ohne sie wäre ich verloren.«
Constanze roch an dem Pulver, dann reichte sie Andreas die Dose mit fragendem Blick zurück.
»Kokain.«
»Kokain?« Constanze schaute ungläubig.
»Ja. Ein Rauschgift, das Vergessen bringt. Auch unter dem Namen ›Coco Captivante‹ bekannt oder einfach ›Koks‹.«
Er holte einen flachen Taschenspiegel hervor, streute ein wenig von dem Pulver darauf, schob es mit den Fingern zu einer langen Linie und sog es durch die Nase ein.
»Aahhh!«, stöhnte er genüsslich und lehnte sich zurück. Er hielt Constanze die Dose hin. »Möchten Sie probieren? Es ist genug da. Nutzen Sie die Gelegenheit; ich bin nicht immer so großzügig.«
»Das Vergessen«, wiederholte Constanze. »Sind Sie sicher?«
»Absolut. Sie werden sich großartig fühlen. Mit Kokain ist man die oder der, der man eigentlich schon immer sein wollte. Feiglinge werden zu Löwen, Mauerblümchen zu Vamps, schüchterne Poeten zu raffinierten Liebhabern. Nehmen Sie! Es ist ein Stück vom Paradies.«
Endlich wieder einmal glücklich sein. Es gab nichts, das sich Constanze mehr wünschte. Sie nahm eine Prise aus der Schachtel, streute sie auf den Spiegel und zog eine Linie. Dann sog sie das Pulver ein und schloss die Augen.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Berlin, 1922
O bwohl Malu nur einen kurzen Glückwunsch zur Geburt des Kindes an Janis geschickt hatte, wartete sie täglich auf Post von ihm. Sie wusste, dass ihr Warten vergeblich war. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, alles war getan, Janis verheiratet und Vater, Malu selbst in Berlin. Und doch wartete sie. Und eines Tages, der Herbst war gerade angebrochen und sie hatte zum ersten Mal den Berliner Ofen in ihrer neuen Wohnung beheizt, kam ein Schreiben von ihm. Kein langer Brief, nur ein paar Zeilen. »Komm zurück«, schrieb er. »Euer Gut verkommt. Deiner Mutter geht es schlecht. Ruppert ist kein Gutsbesitzer. Wenn Du etwas retten willst, dann komm.«
Malu las den Brief so oft, dass sie jedes Wort auswendig kannte. Sie lief in ihrem Atelier auf und ab und knabberte dabei an den Fingernägeln. Soll ich fahren?, überlegte sie. Das Gut ist mir nicht wichtig. Nein, berichtigte sie sich, so ist es nicht. Das Gut ist mir wichtig. Es ist meine Heimat.
Sie seufzte. Eigentlich gehörte sie nicht dorthin. Denn nicht sie besaß es, sondern Ruppert. Niemals würde er wollen, dass sie sich in seine Angelegenheiten einmischte. Und auch sie wollte im Grunde nicht zurück. Berlin gefiel ihr.
Malu hatte Kundinnen gewonnen. Und, sie war sich ganz sicher, es würden immer mehr werden. Das KaDeWe hatte sie um die Präsentation einer eigenen Kollektion gebeten, und Malu saß seither in ihrem kleinen Atelier und arbeitete fieberhaft.
Die Stoffe für die Präsentation hatte sie sich im Kaufhaus aussuchen dürfen, und dieses Mal wollte sie etwas wagen, das noch kein Kleidermacher vor ihr gewagt hatte: Sie würde einfache Stoffe mit feinen kombinieren. Vor ihrem geistigen Auge entstanden Kleider, die einerseits so robust waren, dass sie dem Alltag standhalten würden, andererseits aber vornehm genug aussahen, um jeder Abendgesellschaft zu genügen. Sie zeichnete den Entwurf für ein Kleid, das aus einem einfachen, hellen Leinenstoff bestand und gänzlich ohne Zierrat auskam. Es hatte einen einfachen Kragen, fiel bis zur Hüfte gerade herab, wurde dann ein wenig weiter und endete mit einem leichten Schwung unterhalb des Knies. Dazu entwarf sie ein Jäckchen, das über dem Kleid getragen werden
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