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Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Winter
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sie an ihre Stirn. Sie sehnte sich so sehr wie nie zuvor zurück in die Heimat. Ihr Verlangen nach der Stille der Natur, dem Duft von frisch gemähtem Gras, dem beruhigenden Muhen der Kühe und der tröstenden Stimme der Mutter war so übermächtig, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
    »Ist alles in Ordnung mit dir?« Lothar von Hohenhorst ergriff ihre Hand. Kurz hatte er zu ihr geblickt; doch jetzt sah er wieder gespannt auf die Bühne, um den Auftritt des Balletts nicht zu verpassen.
    »Ja. Es ist alles in Ordnung. Mir geht es gut«, erwiderte Constanze und stand auf. »Ich brauche wahrscheinlich nur ein wenig frische Luft.«
    »Ich begleite dich«, bot Lothar an, obwohl er kaum den Blick von der Bühne lassen konnte.
    Constanze schüttelte den Kopf. »Bitte, Lothar. Bleib hier. Ich glaube, es würde mir guttun, für einen Augenblick allein zu sein.«
    Sie drehte sich um und drängte sich zwischen schwitzenden Leibern zur Tür. Als sie endlich an der frischen Luft war, atmete sie tief ein und aus. Vor dem Haus neben dem Gefallenen Engel stand eine weiß gestrichene Bank. Als sie vor wenigen Stunden im Theater angekommen waren, hatte eine alte Frau dort gesessen und sie mit freundlichen Blicken bedacht. Jetzt war die Bank leer, die Lichter im Haus erloschen.
    Constanze setzte sich, hörte wie aus weiter Ferne die Musik und den Lärm des Theaters. Hier draußen war es erheblich ruhiger als drinnen. Nur aus einem offenen Fenster hörte sie eine Frau schimpfen. Anderswo knallte der Deckel eines Abfallkübels, ansonsten war nur der entfernte Verkehr des Kurfürstendammes zu vernehmen.
    Constanze hatte noch immer eine Hand auf den Magen gepresst und hoffte, dass die Übelkeit nachlassen würde. Es roch leicht nach Abgasen und etwas stärker nach der Linde, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und ihre zarten Blüten tapfer in die Luft reckte. Der Abendwind war ein wenig kühl, und Constanze fröstelte und zog die Schultern hoch. Sie fühlte sich so elend, so allein, so verlassen. Zuerst der Streit mit Malu am Morgen, danach das Stundenhotel mit Ruppert.
    Was ist nur aus mir geworden?, überlegte Constanze. Eine Frau, die nicht ohne die anderen leben kann, die nur für und von anderen lebt.
    Sie dachte an ihre Mutter, die immer so fröhlich war und ihren festen Platz im Leben gefunden hatte. Warum kann ich nicht so sein wie sie? Doch sie wusste keine Antwort darauf.
    Lothars Freund trat aus dem Gefallenen Engel, sah sich suchend um und kam dann auf Constanze zu. »Darf ich?«, fragte er und deutete auf den freien Platz neben ihr.
    »Bitte.«
    Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Es war ein gutes Schweigen, eines, das sich richtig anfühlte und Constanzes Verlassenheit ein wenig milderte.
    »Ich habe mich noch nicht vorgestellt«, sagte der junge Mann nach einer ganze Weile. »Andreas Pauly.«
    Constanze zögerte einen Augenblick, dann reichte sie ihm die Hand. »Sehr angenehm. Marie-Luise von Zehlendorf, genannt Malu.«
    Wieder schwiegen sie eine ganze Weile.
    Schließlich unterbrach Andreas die Stille. »Manchmal fühle ich mich so fremd unter den Menschen. Es ist, als wären sie alle mit irgendwas beschäftigt, das ich nicht erkennen kann. Sie freuen sich über Dinge, die ich nicht sehe, lachen über etwas, das ich nicht hören kann.«
    Constanze wandte sich ihm zu. Verblüfft erwiderte sie: »Ich weiß ganz genau, wovon Sie sprechen. Ich dachte immer, das geht nur mir so.«
    Andreas verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Ich musste raus da. Ich konnte Lothar nicht mehr dabei zusehen, wie er die Männer auf der Bühne mit Blicken verschlang.«
    »Eifersüchtig?«
    Andreas nickte. »Wir sind ein Paar. Schon seit dem Studium.« Er lachte bitter auf. »Zumindest dachte ich immer, dass wir ein Paar wären. Heimlich natürlich, das versteht sich von selbst. Ich habe auch nie erwartet, dass er mich seinen Eltern vorstellt. Allein den Gedanken ertrage ich nicht. Und ich weiß wohl, dass er eines Tages heiraten und Kinder zeugen wird, damit der gute Name der Familie nicht ausstirbt. Ich bin nur ein Spielzeug für ihn. Eine Abwechslung in einer langweiligen Welt, in der es nicht mehr genügend wirkliche Abenteuer gibt.«
    Constanze schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Lothar ist ein Ehrenmann.«
    »In der Liebe und im Krieg gibt es keine Ehrenmänner«, widersprach Andreas. »Da gibt es nur Sieger und Verlierer. Und in der Liebe verliert immer derjenige, der ein

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