Sehnsucht nach Riga: Roman (German Edition)
bei dem sogar seine Frau anwesend war.
Malu hatte Einladungen erhalten. Nicht viele, aber doch einige. Sie hätte sich die Zeit mit Vergnügungen vertreiben können, doch für sie war ihre Arbeit das größte Vergnügen. Noch immer nähte sie Tag für Tag auf ihrer »Mundlos«-Nähmaschine oder zeichnete. Sie beschäftigte mittlerweile eine Weißstickerin, doch auch diese konnte die lettischen und russischen Muster, die derzeit so begehrt waren, nicht ohne Originalvorlagen sticken.
An dem Tag, an dem Malu ihrer Freundin von den Reiseplänen erzählen wollte, lief sie morgens unruhig in ihrem Atelier auf und ab. Auf einmal hörte sie, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Constanze war wieder einmal die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen.
»Constanze, bist du das?«, rief Malu und verließ das Atelier.
»Ja.«
In der Küche saß Constanze am Tisch, vor sich ein Glas Wasser und eine Pille gegen Kopfschmerzen. Als Malu sie sah, erschrak sie. Constanzes Augen waren gerötet, und ihr Blick war so glasig, als könne sie die Dinge nur in Umrissen erkennen. Trotzdem schienen ihre Augen zu brennen. Die Nasenlöcher waren weit geöffnet, die Ränder wirkten ausgetrocknet. Über der rechten Oberlippe konnte Malu Spuren eines weißen Pulvers erkennen. Als Constanze sich zurücklehnte, erblickte Malu deren aufgeblähten Bauch.
Sie ist so dünn, dachte sie, und der Bauch ist so riesig. Was hat sie nur?
Als Nächstes fiel ihr Blick auf Constanzes zitternde Hände. Es sind die Hände einer alten Frau, dachte Malu und seufzte. Die langen, bleichen Finger krümmten sich, als wären sie im Schmerz erstarrt. Es sind die Hände einer Toten, dachte Malu voller Entsetzen. Hände, die man nie vergisst.
»Es ist so kalt hier«, jammerte Constanze und schlang die Arme um den Körper. Trotzdem hörte das Zittern nicht auf. »Es ist so entsetzlich kalt hier.«
»Du frierst immer, wenn du nach durchzechter Nacht nach Hause kommst«, erwiderte Malu sanft und setzte sich Constanze gegenüber. »Soll ich dir einen heißen Kaffee machen?«
Constanze schüttelte den Kopf. »Ich bin so müde, so unendlich müde. Ich will nur noch schlafen, aber die Kälte lässt mir keine Ruhe.«
»Du musst mehr auf dich achten!« Malu sprach zaghaft, sie wollte Constanze nicht verletzen. »Du wirst immer schmaler, bist immer müde und erschöpft, frierst den ganzen Tag. Vielleicht solltest du dich einmal für ein paar Tage ins Bett legen. Soll ich einen Doktor für dich rufen?«
Constanze schrak auf. »Nein! Keinen Doktor. Es geht mir gut. Ich bin nur müde, und mir ist kalt. Im Bett wird es mir gleich bessergehen.«
Sie machte Anstalten aufzustehen, doch Malu legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du siehst krank aus. Ich weiß, dass es dir nicht so gut geht, wie du behauptest. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
Constanze erwiderte Malus Blick. Es lag Verzweiflung darin, aber auch eine leise Verachtung, die sich Malu nicht erklären konnte. Jeder Blinde konnte erkennen, dass mit Constanze etwas nicht stimmte, doch Malu wusste nicht, was es war. »Ich fahre für ein paar Tage nach Riga«, sagte sie leise. »Ich muss einige Dinge einkaufen, die es in Deutschland nicht gibt. Stickereien, Garn, Stickvorlagen, ein paar Rahmen, ein wenig Spitze. Meine neue Kollektion wird dieses Mal an das Landleben erinnern. Willst du mit mir kommen?«
Constanze schüttelte den Kopf. Sie wirkte so kraftlos, als würde sie es kaum noch allein bis ins Bett schaffen.
»Du könntest deine Mutter besuchen«, fuhr Malu fort. »Die gute Luft und das kräftige Essen würden dich rasch wieder auf die Beine bringen. Vielleicht musst du einfach einmal raus aus Berlin.«
Wieder schüttelte Constanze den Kopf. »Ich kann nicht weg von hier«, hauchte sie. »Ich muss in Berlin bleiben.«
»Weshalb?« Malu wunderte sich. »Du hast hier keinerlei Verpflichtungen.«
Constanze hatte sich vom Stuhl hochgerappelt. »Ich kann nicht weg«, erwiderte sie heftiger. »Ich muss in Berlin bleiben. Was weißt du denn schon von meinen Verpflichtungen?«
Malu nickte. »Du hast recht. Was weiß ich schon noch von dir? Nur, dass es dir von Woche zu Woche schlechter zu gehen scheint.«
»Du irrst dich. Es geht mir gut. Es ging mir nie besser. Wann fährst du?«
»Ich nehme morgen Abend den Zug Berlin-Riga.«
Constanze nickte. »Weiß jemand, dass du kommst? Meine Mutter? Janis?«
»Ich habe ihm geschrieben, dass ich nach Riga komme. Aber ich habe keine Ahnung,
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