Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
zufriedenstellende Auskunft, aber Jemma hat den Eindruck, Dr. Leask sei mitschuldig daran, das Leiden seines Sohnes herunterzuspielen. Sie wird nie begreifen, wie ein derart intelligenter und gestandener Mann zulassen kann, dass sein einziger Sohn in diesem großen leeren Haus herumgeistert. Dass es diesem Jungen nicht gut geht, kann jeder sehen. Doch auch aus Mrs. Croad, die sie wegen Henrys Gesundheit befragte, brachte sie kein Wort heraus. Die Haushälterin behauptete, von nichts zu wissen, sei sich aber sicher, dass Dr. Leaks schon wisse, was das Beste für den Jungen sei.
Wenn Henry genug Luft und Energie hat, hört Jemma ihn manchmal traurige Volkslieder über verlorene Liebe singen. Er singt jedoch nur, wenn er allein ist, für gewöhnlich auf dem Weg hinunter zum Strand, wenn er mit hochgezogenen Schultern, die Hände tief in den Taschen seiner Tweedjacke vergraben, die Augen auf den Boden heftet, ohne hinaus aufs Meer zu schauen.
Als Henry seine Rezitation beendet, erläutert Jemma ihm jambische Pentameter und ein Enjambement, den Einfluss des shakespeareschen Monologs, und verweist ihn auf den entsprechenden Gesang bei Dante, der Tennysons Gedicht inspiriert hat. Henry erzählt ihr, dass auch er Gedichte schreibe, es aber nicht genug sei, Gedichte über große Abenteuer zu schreiben, sondern er sich danach sehne, selbst Abenteuer zu erleben. Während seiner täglichen Wanderungen sehe er Schiffe auf ihrem Weg ins offene Meer, sehe sich selbst an Deck, unterwegs in noch nicht bereiste Welten.
Jemma erinnert sich an etwas, das sie über den Hofdichter in der Times gelesen hat. Als ein guter Freund Tennysons England verließ, um in die Kolonien zu reisen, meinte der Poet, hätte er keine Frau, würde er nur allzu gern mit ihm kommen. Jemma sagt, sie frage sich immer wieder, ob nicht diese enttäuschte Sehnsucht, auch auf Reisen zu gehen, ihn zu seinem »Odysseus« inspiriert haben könnte, sodass er, wenn er eine solche Reise tatsächlich gemacht hätte, dieses Gedicht nicht hätte schreiben müssen.
»Ich würde lieber leben!«, platzt es aus Henry mit einer Gewalt heraus, die sein Alter Lügen straft. Dann kämpft er gegen Tränen an. Er blinzelt sie weg und beginnt von seinem Helden Lord Byron zu erzählen, den nichts aufgehalten habe, große Gedichte zu schreiben und dennoch Abenteuer zu erleben. Und was für Abenteuer!
Jemma lächelt ihn traurig an. Die Standuhr im Flur beginnt zu schlagen, und ihre tiefen, bebenden Töne signalisieren für diesen Tag das Ende von Henrys Unterricht.
Gern hätte sie ihm erzählt, dass Abenteuer nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Jedes Mal, wenn sie die Argus oder den Port Phillip Herald aufschlägt – Mrs. Croad besteht darauf, dass Nathaniel beide kauft –, wappnet sie sich für die neuesten Taten der berüchtigten Musk und Byrne. Sie muss zugeben, dass es eines gewissen Galgenhumors nicht entbehrt, auf diese Weise etwas über sich selbst zu lesen. Anfangs hatten Nathaniel und sie es für einen Vorteil gehalten und geglaubt, O’Brien käme ihnen auf diese Weise nicht auf die Spur. (Ihre Holzschnittkonterfeis in der Police Gazette und auf den »Gesucht«-Plakaten waren so armselig, dass die Chance, sie könnten identifiziert werden, äußerst gering erschien.) Doch in letzter Zeit hieß es in den Zeitungen, man habe eine Spezialeinheit gebildet, um sie aufzuspüren. Welch ein Unsinn. Sie war davon ausgegangen, dass die Geschichten im Sande verlaufen würden, wenn man dahinterkam, dass sie jeglicher Substanz entbehrten. Aber ihnen haftete etwas an, was das öffentliche Bewusstsein anheizte. Wenn sie die Leserbriefe in den Zeitungen liest, kann sie nicht begreifen, warum Menschen so etwas tun. Haben diese selbst kein eigenes Leben? Keiner zweifelt daran, dass sie schuldig ist. Ihre Taten sprechen für sich selbst. Welche Frau verlässt schon ihren trauernden Ehemann und brennt mit ihrem Liebhaber durch, bevor ihr totes Kind überhaupt unter der Erde liegt? Sie ist schamlos, gefährlich und auf freiem Fuß.
Es gibt Zeiten, da ist Jemma der Meinung, man hätte sie verhaften, verurteilen und ins Gefängnis sperren sollen, und hält sich selbst für irgendwie verantwortlich am Tod ihres Kindes. Oder hält eine Bestrafung für gerechtfertigt, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt und Gotardo verlassen hat. Der Unsinn, der in den Zeitungen steht, wäre ja noch erträglich, wüsste sie nicht, dass Gotardos Leute – und sogar Celestina – an ihr
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