Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
müssen. Hätte wissen müssen, dass sie alle zu ihr halten würden. Hätte wissen müssen, dass sie das Gotardo schuldig war, ihnen allen schuldig war. Aber diese Stimmung hält nicht lange an, und sie sagt sich, dass der Kummer die Menschen unberechenbar mache und O’Brien Jemma keine Wahl gelassen habe. Und dann weiß sie, was sie zu tun hat. Es ist eine Frage der Ehre wie auch der Loyalität.
Anfangs zweifelte sie daran, dass es möglich war. O’Briens Autorität und seine Macht über die Öffentlichkeit schienen unangreifbar zu sein. Doch es gibt, wie sie entdeckt hat, auch andere in der Stadt, die O’Briens Auftreten mit Sorge erfüllt, und sie hat einen besonders nützlichen Verbündeten in dem Journalisten des Advocate gefunden, der damals Gotardo interviewt hat. Der junge Mann hat aufgrund der ihm von ihr zur Verfügung gestellten Informationen Nachforschungen angestellt, und sie ist zuversichtlich, dass er bald schon genügend Material zusammenhaben wird, um einen Artikel zu veröffentlichen, der die Unregelmäßigkeiten aufzeigt, welche sich die Polizei bei der Verfolgung von Musk und Byrne geleistet hat.
Ob dieser irgendwelchen Einfluss haben wird, weiß sie nicht zu sagen, aber es wäre ein Anfang, eine kleine Stimme, die anderer Meinung ist, eine Mahnung, dass nicht alles so ist, wie es scheint.
Erst wenn O’Brien endlich entlarvt sein wird, wird auch Celestina wieder gut schlafen können.
41
Vom Klavier aus beobachtet Henry Mrs. Wright, die aus dem Wohnzimmerfenster hinaus auf den Garten und zur Westernport Bay schaut. Er räuspert sich und wartet, bis sie darauf reagiert. Es ist nicht das erste Mal, dass er sie so gesehen hat, eine Statue mit leerem Blick. In eine Art Trance versunken. So freundlich sie auch immer zu ihm war, ein Teil von ihr blieb immer abwesend, als lebte sie in ihrem Kopf ein anderes Leben. Als er Mr. Wright und sie auf diesem Veloziped direkt auf den Blaugummibaum zusteuern sah, war es, als wäre kurz eine Tür aufgegangen und hätte ihm einen Blick auf dieses andere Leben gewährt. Dann schlug die Tür zu, und er tappte wieder im Dunkeln.
Henry möchte sie nicht stören, aber er kann auch nicht den ganzen Nachmittag so verweilen. »Mrs. Wright?«
Ruckartig blickt Jemma auf. »Henry! Entschuldige bitte.«
Sie ist so blass, dass er Angst hat, sie werde gleich in Ohnmacht fallen.
»Stimmt was nicht?«, fragt er.
»Nein, nicht doch. Fang bitte an.«
Während Henry sich auf das Gedicht stürzt, rüttelt Jemma sich auf. Sie fragt sich, wie lange der Junge sie wohl beobachtet hat. Sie hatte völlig vergessen, wo sie war. War eingetaucht in jenen sonnigen Nachmittag vor einer Woche, wo sie unter Nathaniels Beifallsrufen auf dem Fahrrad den Berg hinuntergerast war. Erinnerte sich an den süßen Geschmack der Hoffnung, den sie dabei empfand, der Hoffnung, Nathaniel und sie könnten jenseits der täglichen Scharade eine Zukunft haben. Der Hoffnung, dass sie trotz allem, was geschehen war, doch noch ihr Glück finden könnten. Aber sich ein solches Glück vorzustellen hieße, sich vorzumachen, dass sie es verdient oder dass man die Vergangenheit hinter sich lassen kann. Und weder das eine noch das andere trifft zu. Ließe sie den Schmerz los, ließe sie damit auch Lucy los, und das wird sie, wie sie weiß, niemals können. Ihr Schmerz ist alles, was ihr geblieben ist.
Sie richtet ihren Blick auf Henry, als wäre er eine Rettungsboje mitten im Ozean. Für einen Dreizehnjährigen ist er groß, und er hat so ein liebes Gesicht, dass die Vorstellung, er werde zu einem Mann mit Koteletten und einem enormen Bauchumfang wie sein Vater heranwachsen, sie traurig stimmt. Wenn er seine Stimme überstrapaziert und sie bricht, steigt ihm manchmal das Blut in den Kopf. Doch als er seinen Rhythmus findet und selbstvergessen zu Tennysons alterndem Odysseus wird, den es nach einer letzten Reise dürstet, verschwindet die Röte.
Jemma vermag hinter Henrys Worten das leise Pfeifen seiner Lunge zu hören. Ihr ist aufgefallen, dass er schneller ermüdet, als dies ein junger Mann seines Alterns tun sollte, und er oft außer Atem ist, wenn er einen Berg erklommen hat oder eine Treppe hinaufgestiegen ist. Aber immer, wenn sie ihn fragt, was mit ihm los ist, winkt er ab – wie das auch sein Vater bei ihrer ersten Unterredung getan hat –, als wolle er damit das Problem wegwischen. Er erkälte sich leicht, sagt er. Nichts Ernstes, nichts, was sich nicht auswachsen würde.
Das ist zwar keine
Weitere Kostenlose Bücher