Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
ihn genauso sehr braucht wie er sie. Als er sie zur Flucht aus Wombat Hill bedrängte, hatte er sich nicht vorstellen können, sich einmal als ihr Gefangener zu fühlen, ein Zuschauer ihres Leids. Oder dass der Tag kommen würde, an dem es das Beste wäre, wenn sie ihn wegstieße.
»Warum bist du nie hier bei mir, Jemma?«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du verbringst deine ganze Zeit mit Henry.«
Sie schweigt. »Er wird sterben, Nathaniel.«
Nathaniel weiß, dass er sich dafür verfluchen wird, aber er bohrt dennoch weiter, weil es ihn nicht mehr kümmert. In ihrem Flüchtlingsdasein haben sie nur einander. Und wenn das nicht mehr der Fall ist, haben sie nichts mehr. »An Schwindsucht muss man nicht sterben.«
Jemma wirft das Buch zu Boden, das sie in der Hand gehalten hat, und wirft ihm einen Blick voller Verachtung zu. Sie hasst sich dafür, ihm wehzutun, aber das ist die einzige Möglichkeit, ihm die Augen dafür zu öffnen, dass er sie nicht braucht, dass er besser ohne sie zurechtkäme. Besser allein wäre. Dass Henry sie mehr braucht.
Nathaniel hebt den Port Phillip Herald auf, der in der Nähe liegt, und überfliegt die Spalten. Es macht keinen Sinn, ihr zu sagen, wie sehr er sie liebt. Denn er weiß genau, dass sie diese Erklärung nicht erwidern wird, nicht sagen wird, sie liebe ihn auch, obwohl er sich sicher ist, dass dem noch immer so ist.
Nichts ergibt mehr einen Sinn. Schon vor langer Zeit hat er aufgehört, diese vollgeschmierten Zeitungsspalten als Spiegel der Welt zu sehen, wie er sie kennt, hat lange schon aufgehört, daran zu glauben, dass es »Neuigkeiten« sind. Sie mögen neu sein, aber dennoch weit entfernt von den Fakten oder der wahren Komplexität des Lebens der Menschen. Seit Monaten verfolgen Jemma und er nun ungläubig, wie der Mythos von Musk und Byrne in Schwung gekommen ist und jeder neue Bericht wieder weitere fieberhafte Spekulationen über ihren Verbleib und ihre mutmaßlichen Missetaten hinzufügt. Und Nathaniel hat dabei erkannt, dass Beweise und Wahrheit irrelevant sind, wenn alles davon abhängt, was die Menschen glauben wollen. Die Geschichten setzen sich fest wie bei der Stillen Post, bis auch noch der unwahrscheinlichste Vorfall einen glänzenden Beweis zu liefern scheint.
Erst vor einer Woche haben Jemma und er angeblich einen Raubüberfall auf das Warenhaus im nahe gelegenen Merricks verübt. Die mitten in der Nacht geweckten Besitzer dachten zuerst an Beutelratten, die durch den Kamin ins Haus gekommen waren und die Regale durcheinanderbrachten, stattdessen jedoch entdeckten sie einen Mann und etwas, das im Kerzenlicht wie ein Junge aussah, die plündernd über ihre Regale herfielen. Angesprochen, habe das Paar mit einem Sack voller Ware durch die Tür das Weite gesucht. Der Mann habe sich auf sein Pferd geschwungen, doch dem Jungen sei es wegen seines schweren Sacks nicht gelungen aufzusitzen. »Lass ihn da, Jem!«, habe man den Mann schreien hören. Woraufhin der Junge sofort seinen Sack habe fallen lassen und beide im Galopp in die Nacht entschwunden seien. Das Zauberwort »Jem« hatte schon gereicht. Der Junge war eine Frau. Und nach Überzeugung der Besitzer war der Diebstahl das Werk von Musk und Byrne. Seitdem redet man im ganzen Bezirk darüber, und die ganze Farce rückt unangenehm nahe.
Als Nathaniel jedoch die in der Zeitung abgedruckten Briefe liest, wird ihm klar, dass diese Hysterie weder von Angst noch von Missbilligung geschürt wird, sondern von etwas viel Unergründlicherem und Tieferem, von etwas, das keiner bereit wäre zuzugeben: einer Vernarrtheit, einer verzerrten Form der Liebe. Ganz normale Bürger, enttäuscht von den mangelnden Erfolgen der Polizei, richten ihre eigenen Suchtrupps aus, verschwinden im Busch oder folgen der ein oder anderen falschen Fährte, und kehren dann Tage oder Wochen später mit einem Stück Kohle zurück, das angeblich von ihrem Lagerfeuer stammen soll, oder einem Fetzen Spitze, von dem sie behaupten, es sei von Jemma Musks Unterrock, oder einem anderen zweifelhaften Beweisstück, das ihnen erlaubt, ein wenig Anspruch auf sie zu erheben.
Nathaniel stößt ein bitteres Lachen aus. Wenigstens befindet er sich in Gesellschaft! Er ist nicht der Einzige, dem Jemma Musk sich entzieht.
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Auf ihrem Weg über den felsigen Pfad hinunter zum Strand muss Henry oft stehen bleiben, um Luft zu holen, wobei er jedoch vorgibt, den Blick über das Wasser zu genießen oder Astor zu tätscheln, der neben ihm her läuft.
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