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Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)

Titel: Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fiona Capp
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erklären. Automatisch wandert ihre Hand an das Medaillon um ihren Hals.
    Sie weiß nicht, warum sie es sagt. Irgendetwas, um das Thema zu wechseln. »Du musst deinen Vater vermissen, Henry.«
    Henry findet einen weiteren Stein und dreht ihn um. Sein Vater, sagt er, sei ein viel beschäftigter Mann. Und wenn er nicht im Krankenhaus sei oder sich um seine Patienten kümmere, sei er mit Amelia auf irgendeinem Ball. Wäre Henry in der Stadt, würde er ihn womöglich auch nicht öfter zu sehen bekommen als jetzt. Mit einem scheuen Blick auf sie fügt er hinzu, dass er sich sehr viel weniger einsam fühle, seit Mr. Wright und sie hergekommen seien.
    Anfangs bemerken sie den Nebel gar nicht, der vom Meer hereindrückt. Ihre Rücken dem Wasser zugekehrt hocken sie im Sand und untersuchen einen weiteren Zwergpinguin, den es von der Insel herübergespült hat. Henry streichelt den glänzenden schwarzen Kopf des kleinen Geschöpfs und wendet sich dann ab, weil er von einem Hustenkrampf geschüttelt wird. Als er sein Taschentuch vom Mund zieht, stopft er es schnell in seine Tasche, aber nicht rasch genug, um die Blutflecken zu verbergen.
    »Sehen Sie!«, sagt Henry und deutet dorthin, wo das Meer sein sollte. Der Horizont ist verschwunden, genauso wie die Landzunge und der Blick hoch zur Küstenlinie: alles aufgezehrt vom Wasserdampf.
    Jemma hatte diese Nebel vom Meer schon öfter heranrollen sehen, aber aus der Distanz, und hatte nie mittendrin gesteckt. Zu Anfang, als Nathaniel und sie herkamen, hatten sie dieses alles auslöschende Weiß des Nebels begrüßt, das ihnen das Gefühl gab, für die äußere Welt unsichtbar zu sein. Aber das hier ist ein anderes Gefühl. Hier, wo man nirgendwohin kann, es keine Fenster und keine Wände gibt, welche die eindringende Leere in Schach halten. Bis auf die kleinen grauen Wellen, die an ihre Füße schlagen, ist vom Wasser nichts mehr zu sehen. Alle Vögel schweigen, als würden sie lauschen und abwarten, was passiert. Dann fängt irgendwo am Strand ein Hund zu bellen an.
    »Astor!«
    Nachdem er mehrmals laut aufgejault hat, hört man etwas trappeln. Eine kleine Gestalt taucht aus dem Nebel auf. Henry kniet nieder und zieht den Kopf des Hundes an seine Brust. »Du dummer, dummer Hund«, sagt er und streichelt seine Ohren. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich dich hier zurücklasse?«
    So etwas würde auch eine Mutter zu ihrem Kind sagen, das momentan das Gefühl hatte, verlassen worden zu sein. Es gab eine Reihe solcher Anlässe, wo Jemma bei Henry das Echo solcher verlorenen Worte vernommen hatte. Die Stimme seiner Mutter. Ganz instinktiv beschwor er sie auf diese Weise herauf, sorgte dafür, dass sie ihm zur Seite stand, wie sie ihm das zweifellos für immer versprochen hatte.
    Jemma erinnert sich solcher Versprechen. Versprechen, die sie in Lucys Ohr geflüstert hat. Das Versprechen, sie niemals zu verlassen, egal was geschieht. Wieder greift sie nach dem goldenen Medaillon. Ihre Finger flattern über ihre Brust und hoch an ihr Kinn, wo sie blind unter dem Kragen ihrer Bluse danach tastet. Weil sie die Kette nicht finden kann, öffnet sie die obersten Knöpfe und presst ihre Hände an ihre Kehle, findet dort aber nur ihren schnellen Puls. Die Haut ist nackt. Entsetzlich nackt. Das Medaillon war eben noch da gewesen, aber irgendwo zwischen dem Fluss und dem Platz, auf dem sie jetzt steht, ist es ihr wohl entglitten.
    Der dichte Nebel hat fast den ganzen Strand verschluckt. Jemma stiert auf den Sand. Sie kann nur ein paar Schritte weit sehen. Sie lässt sich auf die Knie fallen und versucht, nicht in Panik auszubrechen. Seit sie Wombat Hill verlassen hat, ist kein Tag vergangen, an dem es sie nicht danach verlangte, das Medaillon zu öffnen und Lucys Gesicht zu betrachten. Aber sie hat es nicht zugelassen, nicht ein einziges Mal. Sie hat sich gezwungen, sich damit zufriedenzugeben, das Medaillon dicht auf ihrer Haut zu tragen, zu wissen, dass es da ist, und es zu spüren. Wie sinnlos das ist, weiß sie, und doch hat dieser Vorsatz seine tröstliche Wirkung nicht verfehlt. Denn solange sie das Medaillon nicht öffnet, bleibt die Möglichkeit offen, dass Lucy noch lebt.
    Jemma hört sich wimmern, aber sie kann nicht an sich halten. Alles, was sie so verzweifelt in Schach zu halten versucht hat, droht sich nun an diesem von Wolken eingehüllten Strand zu entladen.
    Henry kniet ebenfalls nieder und fragt sich, was wohl so wertvoll sein könnte, dass sein Verlust seine Hauslehrerin,

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