Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
die doch immer so gefasst und ruhig ist, in einen derart aufgelösten Zustand zu versetzen vermag. Sie wühlen im Sand, fegen ihn in diese und in jene Richtung, heben verfilzte Seetangbündel und Treibholz hoch, doch Jemma weiß, dass es hoffnungslos ist. Sie sollte mit Henry ins Haus zurückkehren. Bei diesem Wetter sollte er nicht draußen sein. Aber an Aufbruch ist nicht zu denken, bevor sie nicht das Medaillon gefunden hat: Sie darf Lucy nicht wieder verlassen.
Als Henry Astor an dem toten Zwergpinguin schnüffeln sieht, bringt ihn das auf eine Idee. Der Hund mag zwar kein großartiger Bluthund sein, aber eine Schnauze, um Witterung aufzunehmen, hat er dennoch. Henry bittet Jemma um ihr Taschentuch und gibt es dem Hund zum Schnüffeln. Und auf Henrys Kommando läuft der Hund los und arbeitet sich schnüffelnd über den Sand.
Jemma lässt hilflos ihre Arme sinken und beobachtet gebannt, wie Astor immer wieder im Nebel verschwindet und wieder auftaucht. Das langsame Auflösen von Farbe und Form und dessen Umkehrung, wenn der Hund wieder auftaucht. Es kommt ihr so nutzlos vor, und doch bleibt ihr keine andere Wahl, als darauf zu vertrauen, dass eine winzige Spur ihres Körpers dort irgendwo im Sand liegt.
Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit gewartet haben, hören sie kurzes, scharfes Gejaule. Sie eilen zur Geräuschquelle, wo Astor mit wie verrückt wedelndem Schwanz auf sie wartet. Unter seiner Schnauze sehen sie etwas schimmern. Henry hebt das Medaillon auf, und als er den Sand abwischt, öffnet es sich. Drinnen befindet sich die winzige Fotografie eines sehr kleinen Kindes mit lockigen blonden Haaren und Mrs. Wrights halbmondförmigen Augen. Er gibt es an Jemma weiter, die nach einem kurzen Blick auf das Foto das Medaillon zuschnappen lässt.
Er sieht sie mit festem Blick an. »Ist das Ihre Tochter?«
Jemma weiß, dass sie nicht ausweichen kann. Sie muss es ihm sagen. Und zu ihrer Überraschung entdeckt sie, dass sie es ihm sagen will, der Welt sagen will, dass Lucy einst gelebt hat. Sechs Monate lang hat Jemma nicht von ihr gesprochen, ihren Namen nicht laut ausgesprochen. Ihre Kehle ist so zugeschnürt, dass sie kaum atmen, geschweige denn sprechen kann.
»Lucy«, flüstert sie. »So hat sie geheißen.«
Jetzt hat sie es gesagt. Sie hat die Vergangenheitsform verwendet. Lucy ist nicht mehr, und Jemma kann sich nichts mehr vormachen. Sie erinnert sich an das erste Mal, als sie »meine Tochter« sagte, und daran, wie unendlich groß sich dieses Wort in ihrem Mund anfühlte, und dass sie fast schlucken musste, als sie es aussprach. Das ungeheuere Ausmaß dieses Ereignisses, das allen anderen doch so gewöhnlich vorkommen musste.
Henrys Blick ist zu Boden gerichtet. Ihm ist Kummer vertraut, und er weiß, dass es nichts dazu zu sagen gibt. Er hat diese Traurigkeit in ihr gespürt, gefühlt, dass sie etwas gemeinsam hatten, und versteht jetzt, warum.
Es sei Zeit zu gehen, bemerkt sie und versucht angestrengt den Weg zu erkennen, der durch die Bäume führt. Sie hat keine Ahnung, wie sie den Rückweg finden sollen.
Als Henry ihre Verwirrung bemerkt, ergreift er ihre Hand. Auf seinem Gesicht liegt ein Glanz, der nicht von dieser Welt ist. »Keine Sorge, Mrs. Wright. Bei Nebel muss man sich immer wieder daran erinnern, dass es keine Wand ist. Mit jedem Schritt kann man ein Stückchen weiter sehen. Man muss nur weitermachen.«
Jemma umschließt seine Hand und stellt entsetzt fest, wie heiß sie ist, obwohl er zu zittern anfängt. Und da beginnt sie zu begreifen, dass es möglich ist, weitermachen zu können. Dankbar drückt sie ihm die Hand, und sie folgen Astor durch den Nebel.
45
Als Jemma in dieser Nacht die Augen schließt, sieht sie eine Gestalt aus dem Nebel auftauchen. Oder verschwindet sie? Sie öffnet die Augen und nimmt die Dunkelheit in sich auf, dann macht sie sie wieder zu. Das Bild bleibt, ist aber so schemenhaft und nebulös, dass man schwer sagen kann, ob es tatsächlich eine Gestalt ist oder ein Ding oder ein dunkler Wolkenfleck. Jemma wartet darauf, dass der Nebel aufklart und die Gestalt sich selbst kundtut. Aber selbst als Bewegung in die Luft kommt und winzige oszillierende Lichtpartikel zu schimmern beginnen, bleibt die Gestalt verschwommen. Je länger sie das Bild gedanklich festhält, umso deutlicher wird ihr, dass dieser Eindruck der Auflösung, des Wolkigen und eines in seine Atome zerlegten Lichts kein vorübergehender Zustand ist. Die Gestalt ist untrennbar eins mit der Landschaft
Weitere Kostenlose Bücher