Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
ist ein Lied, das Jemma ihn schon öfter hat singen hören, über eine Frau namens Molly Malone, die mit ihrem Karren durch die Straßen von Dublin zieht und Herz- und Miesmuscheln verkauft. Als er an die Stelle kommt, wo Molly an einem Fieber stirbt, fällt seine Stimme, sodass man sie kaum noch hören kann. Um dann gleich darauf beim Refrain trotzig anzuschwellen und die Worte fast herauszuschreien.
Alive, alive-o
Alive, alive-o
Crying, »Cockles and mussels,
Alive, alive-o!«
Erst als er die letzte Note gesungen hat, wird er von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt, der so intensiv und anhaltend ist, dass Jemmas sich bestürzt an Nathaniel wendet. Als sie gerade aufstehen will, lässt der bellende Husten nach, wird schwächer und verebbt zu krächzendem Räuspern. Erst dann blickt Henry zu ihnen hoch, als hätte er die ganze Zeit um ihre Anwesenheit gewusst. Er winkt und setzt seinen Weg über die Felsen fort, ehe er in den Bäumen des Küstenvorlandes verschwindet.
Nathaniel gibt vor, Jemmas Aufregung nicht zu bemerken. Wenn er sie darauf anspricht, führt dies nur zu Ärger zwischen ihnen. Seiner Überzeugung nach halten Dr. Leask und seine Frau sich aus Angst vor Ansteckung fern. Faktisch haben sie Henry verlassen, obwohl sie das nie so sehen würden. Es ärgert ihn, dass Jemma und er nun die Verantwortung für die Gesundheit des Jungen tragen, die eigentlich sein Vater hätte übernehmen sollen. Jemma hat schließlich schon genug um die Ohren.
Mit jedem Tag, der ins Land geht, wächst das Schweigen zwischen ihnen. Über das, was nachts geschieht, verlieren sie kein Wort. Es anzuerkennen wäre gefährlich, es würde zu viele beunruhigende Fragen darüber aufwerfen, was sie voneinander wollen und warum. Nathaniel hat gelernt, sie als ein Tier der Nacht zu sehen, das nur in der Deckung der Dunkelheit zum Vorschein kommt. Ein Tier, dessen Bedürfnisse wild und zunehmend düsterer sind. Wenn sie jetzt auf ihn losgeht, ist das nicht mehr bloße Provokation. Sie will ihn damit nicht nur anstacheln, ihr wehzutun, ihr Schmerz zuzufügen. Sie möchte auch ihn leiden sehen. Wenn sie sich auf ihn stürzt und sich mit ihren Nägeln in seine Schulter krallt und mit ihrem Mund an seinem zerrt, ist ihre Wut nur allzu echt. Er befürchtet, eines Tages die Kontrolle über sich zu verlieren und ihr Verletzungen zuzufügen, da er zwischen ihren Lust- und ihren Schmerzensschreien nicht mehr unterscheiden kann. Früher hatte die Gewalt die Zärtlichkeit verstärkt. Aber die Zärtlichkeit war fast völlig verschwunden.
Je mehr sie sich von ihm zurückzieht und ihre Zuneigung zurückhält, umso mehr begehrt er sie und verzehrt sich nach ihr, und zwar nicht nach ihrem Körper, sondern nach ihrer Liebe. Wenn Henry abends zu Bett gegangen ist und Jemma gemeinsam mit ihm am Feuer ihres Häuschens sitzt, liest oder etwas stopft oder einfach nur durchs Fenster auf die Sterne starrt, möchte er am liebsten seine Hand ausstrecken und ihre Hand halten. Schweigend dazusitzen, ohne etwas sagen zu müssen, sollte ein vertrautes Gefühl sein. Aber sobald er ihre Hand drückt oder auf irgendeine Weise ihre Aufmerksamkeit sucht, schließt sie ihre Augen oder wirft ihm ein distanziertes Lächeln zu, wie eine Mutter das bei einem quengelnden Kind tut.
Kürzlich hat er sich damit aufzuheitern versucht, indem er die Landkarten des Landesinneren hervorholte, vom Lake Eyre und Lake Torrens und der Simpson Desert. Um sich daran zu erinnern, dass er einst große Pläne hatte. Aber es ist ihm fast unmöglich, sich darauf zu konzentrieren oder auch nur wieder Begeisterung für die Expedition aufzubringen. Der Wille, die Expedition auf die Beine zu stellen, bleibt, doch die Sehnsucht, es zu tun, versickert wie ein Fluss in der Wüste. Andere Sehnsüchte sind nun vorrangig. Er kann es kaum begreifen, dass er einmal glauben konnte, nichts sei wichtiger, als Antworten auf Fragen zu finden, von denen die meisten Menschen glaubten, sie seien längst gelöst. Er ist noch immer davon überzeugt, dass der Binnenozean unterirdisch oder als kapriziöses saisonales Phänomen existieren könnte. Aber er hält es nicht mehr für seine besondere Bestimmung, den Beweis für die Richtigkeit seiner These anzutreten. Soll es jemand anderer tun. Was ändert es am Ende?
Es gab eine Zeit, da ertrug er es nicht, wenn eine Frau weinte und klammerte. Jetzt sehnt er sich danach, sie weinen und offen trauern zu sehen, damit er sie trösten könnte und wüsste, dass sie
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