Sehnsucht nach Wombat Hill: Australien-Roman (German Edition)
Gemälde entsprechend ihrer Vorstellung Gestalt an. Die Pinselstriche sind grob und unverbunden, halb aus Ungeduld, sie auf die Leinwand zu bringen, halb aus dem Wunsch heraus, die kurzlebige Energie des Augenblicks einzufangen, sodass die Bilder sich auflösen und sich vor dem Auge wieder neu zusammensetzen. Vieles davon malt sie mit einem Tränenschleier vor ihren Augen. In Erinnerung daran, wie sie Lucys Gesicht gestreichelt hat, streicht sie ganz sanft über die Leinwand. Und immer öfter denkt sie dabei auch an Gotardo und möchte ihn fragen, ob er sich auch an dies oder jenes erinnert. Manchmal hat sie das Gefühl, als würde sich ihr Mund mit Worten füllen, die nicht ausgesprochen werden können, weil die Erinnerungen nicht geteilt werden. Nathaniel würde zuhören, wenn sie versuchte, es ihm zu erzählen, aber das ist nicht das, was sie möchte und braucht. Sie kann zu ihm nicht sagen: »Erinnerst du dich noch an das eine Mal, als wir Lucy vermissten und sie dann draußen auf der Weide fanden, wo sie in die Augen eines Kalbs starrte?« oder »Weißt du noch, wie sie rannte, bevor sie laufen konnte?« oder »Kannst du dich noch erinnern, wie sie im Schlaf gelacht hat!«
Jemma sehnt sich danach, ihre Erinnerungen mit jemandem auszutauschen, damit Lucy in der Welt, die sie einst geteilt haben, lebendig bleibt.
Wie immer, wenn Jemma intensiv gemalt hat, verspürt sie den Drang umherzulaufen. Und auf ihrer Wanderung durch den Garten, wo sie dem Schrei der Möwen lauscht, muss sie an Henry denken. Sie kann ihn sehen, wie er mithilfe eines Stocks den Klippenpfad erklimmt. Er bleibt häufig stehen, um Atem zu holen, und wenn ihn ein Hustenanfall überkommt, fällt ihm das fahle Haar ins Gesicht. Seine Kleider hängen an ihm dran, als wären sie ihm zwei Nummern zu groß. Sie erinnert sich daran, wie er, einer Vogelscheuche gleich, auf der Felsspitze von Cape Schanck gestanden hat und wie viel dünner er seitdem geworden ist.
Jemma wendet sich ab. Sie kann nicht mehr länger zusehen. Ihr Entschluss steht fest, sie wird es ihm auf den Kopf zusagen, dieser erbärmlichen Vorgaukelei ein Ende bereiten. Außerdem wird sie Dr. Leask telegrafieren und darauf bestehen, dass er herkommt und sich um seinen Sohn kümmert.
Zu Jemmas Verwunderung trifft Dr. Leask schon einen Tag, nachdem sie das Telegramm abgeschickt hat, in Red Ridge ein. Er isst allein mit seinem Sohn zu Abend und bittet dann Mrs. Wright, zu ihm ins Wohnzimmer zu kommen. Als sie Platz genommen hat, schließt er die Tür.
»Ich muss Ihnen gestehen, Mrs. Wright, es beschämt mich zutiefst, dass ich meinen Sohn Ihrer Obhut unterstellt habe, ohne Sie über seine Krankheit wahrheitsgemäß aufzuklären. Mir ist seit einiger Zeit bekannt, dass er an Schwindsucht leidet, wollte es aber nicht eingestehen, nicht einmal mir selbst. Der Schmerz, Henrys Mutter sterben zu sehen, ist noch immer zu frisch. Und, jawohl, ich hatte Angst, Sie würden diese Stelle nicht annehmen, wenn Sie es wüssten. Sie taten recht, mich damit zu konfrontieren. Ich habe mich in meine Arbeit vergraben, um bloß keine Zeit zum Nachdenken zu haben, was die Zukunft womöglich bereithält.«
Jemma wartet, denn er zieht ein Taschentuch aus seiner Brusttasche und wendet sich ab, um seine Nase zu schnäuzen. Kontakt zu Dr. Leask aufzunehmen und somit die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken war riskant unter Berücksichtigung der vielen Spekulationen über Musk und Byrne. Leask hat ihnen einen Gefallen damit getan, sie in Ruhe zu lassen. Doch sie kann nicht länger tatenlos zusehen, wie Henry immer schwächer wird.
»Wenn ich ganz offen sein darf, Dr. Leask«, beginnt sie, »dann verzehrt sich der Junge nach Liebe. In medizinischen Dingen bin ich nicht bewandert, aber ich weiß, was ein Kind braucht. Kinder sind robuste Geschöpfe – die meisten jedenfalls …« Ihr bleiben die Worte im Hals stecken. »Was ich damit sagen will, ihm fehlt ein Grund zu leben. Und ihm diesen zu geben haben nur Sie die Macht.«
Bei aller reuevollen Einsicht empfindet Dr. Leask die Unverfrorenheit dieser Frau dann doch als Affront. »Man kann ihn wohl kaum mehr als Kind bezeichnen, Mrs. Wright. Ein junger Mann muss Selbstvertrauen entwickeln und lernen, wie man auf eigenen Beinen steht. Wenn Sie selbst Kinder hätten …«
Jemma kann nicht an sich halten. Die Gefahr, sich zu verraten, kümmert sie nicht mehr. »Ich hatte ein Kind, Dr. Leask. Es starb Anfang dieses Jahres. Und ich kann Ihnen versichern, es gibt nichts
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