Sehnsucht und Erfüllung
beobachtete der Tiger sie mit majestätischer Miene, ohne jedes Anzeichen von Nervosität. “Tiger bekommen in Gefangenschaft problemlos Junge, doch die Nachfrage nach weißen Tigern hat zu Problemen geführt.” Shane seufzte. “Sammy kommt von einem Züchter, der mit der Zucht von weißen Tigern Geld zu machen versucht. Dabei werden orangefarbene mit weißen Tigern gekreuzt. Unter dem Nachwuchs sind sowohl weiße als auch orangefarbene, die aber wie Sammy ihren Nachkommen die Anlagen für die weiße Farbe vererben können – Sie erinnern sich vielleicht noch an die Vererbungslehre, die man irgendwann im Biologieunterricht durchnimmt? Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, kommt es bei diesen Zuchtversuchen immer wieder zur Kreuzung miteinander verwandter Tiere, mit der Gefahr, dass die Tiere nicht gesund sind. Sammy beispielsweise hat ein angeschlagenes Immunsystem.”
“Wie traurig.”
“Ja, das ist es. Und Sammy ist nicht der einzige Tiger aus solchen Zuchtexperimenten, den man loswerden wollte. Es leben viele solcher Tiere in Wildgehegen.” Shane ließ den Blick über Kelly gleiten. “Geht es Ihnen gut? Möchten Sie sich eine Weile hinsetzen?”
Sein abrupter Themenwechsel irritierte sie. Plötzlich kam sie sich dick und unattraktiv vor. Es gefiel ihr gar nicht, dass sein Blick immer wieder auf ihrem Bauch verweilte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Schwangerschaft ihm unangenehm war. “Warum? Sehe ich müde aus?”
Er schluckte. “Nein. Aber wenn ich bei diesem Thema bin, vergesse ich immer schnell die Zeit. Und Sie sind … na ja …”
Schwanger, ergänzte sie im Stillen und wunderte sich, warum er das Wort nicht aussprechen mochte. Vielleicht, weil er Single war. Jason hatte auch Probleme damit. In jeder Hinsicht. Der Vater ihres Babys wollte nicht Vater sein.
“Wie wär’s, wenn wir picknicken und den Rundgang danach beenden?”
“Okay.” Sie brauchte tatsächlich eine Pause.
Der Picknickplatz, grob gezimmerte Tische und Bänke unter alten Eichen, befand sich außerhalb des Geheges. Kelly gefiel die parkähnliche Anlage, besonders, weil sich jenseits der einfachen Absperrung meilenweit Brachland erstreckte. Da Shanes Anwesen auf einem Hügel lag, hatte man einen weiten Blick über die Ebene.
“Was ist das dort für eine Hütte?”
“Das soll unser Souvenirshop werden. Wir wollen T-Shirts machen lassen und Kaffeebecher – Dinge, mit denen wir für das Wildgehege werben können. Wir leben hauptsächlich von Spenden und Mitgliedsbeiträgen.”
Sie hatten sich ein einfaches Lunch eingepackt: Truthahnsandwiches, Käsekräcker, Äpfel und Wasser. Alles in Duarte erschien Kelly schlicht und einfach. Wie ihr Großvater gesagt hatte, war es ein abgeschiedenes Fleckchen Erde, an dem die Zeit stillzustehen schien.
Kelly griff nach ihrer Wasserflasche. Zeit war genau das, was sie brauchte. Sie wollte in Ruhe nachdenken und Entscheidungen treffen, ohne sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen zu müssen oder sich ständig zu fragen, wann Jason von seiner Geschäftsreise zurückkommen würde.
“Wie ist es denn so in Ihrer Heimatstadt?”
Sie sah auf ihr Sandwich. Komisch, wie Shane immer ihre Gedanken erriet. “Es ist ein netter, kleiner Ort, wo sich fast alle kennen.” Kelly war in Tannery, Ohio, geboren, zur Schule gegangen, hatte dort einen Job gefunden und ihren Großvater begraben. Es war ihr Zuhause, und doch wollte sie momentan dort nicht sein.
“Sie sind also Kassiererin in einem Supermarkt.”
Kelly nickte. Sie hatte Shane das beim Essen am Vorabend erzählt. “Das Gehalt ist nicht schlecht, und ich habe eine exzellente Krankenversicherung.”
Er rieb einen Apfel an seinem Hemd. “Ja, aber es ist nicht das Richtige für Sie.”
Sie wusste nicht recht, ob sie das kränken sollte. Niemand hatte bisher ihren Job infrage gestellt. “Mir gefällt der Umgang mit den Kunden.”
Er suchte ihren Blick. “In Ihnen steckt mehr. Es gibt etwas, wofür Sie eine Leidenschaft haben, das spüre ich.”
Kelly erschauerte. Dass er ihr tief in die Augen blickte, machte sie nervös. Es war, als würde sich ein Puma an sie heranschleichen. Sie hatte tatsächlich eine große Leidenschaft. Nichts Besonderes, bloß ein Hobby. Sie zeichnete gern. Nur für sich selbst. Pflanzen, Tiere. Aber sie bildete sich keineswegs ein, dass ihre Zeichnungen auch anderen gefallen würden.
“Mein Job ist schon in Ordnung”, erklärte sie, obwohl in ihrem Leben nichts in Ordnung war. Statt sich darauf
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