Sehnsucht unter suedlicher Sonne
überrascht, wie klar und deutlich ihr geantwortet wurde.
„Herein!“
Genevieve nahm sich vor, sich auf keinen Fall einschüchtern zu lassen und ihr Ziel immer im Auge zu behalten. Hester hatte Catherine zweifellos gekannt. Sie waren etwa im gleichen Alter und vielleicht sogar befreundet gewesen.
„Wollen Sie nun hereinkommen oder nicht?“
Diesmal klang die Stimme noch lauter und etwas schärfer. Genevieve öffnete die Tür und betrat das Zimmer so unbefangen wie möglich. Sie hatte es offensichtlich mit einer Tyrannin zu tun.
Die Möbel, mit denen sich Hester umgeben hatte, stammten aus dem achtzehnten Jahrhundert und besaßen hohen antiquarischen Wert. Der ganze Raum lag im Halbdunkel. Die schweren, prachtvoll gemusterten Vorhänge waren so weit zugezogen, dass kaum Licht hereindrang, obwohl draußen noch die Sonne schien.
Hier herrscht Eiseskälte, durchfuhr es Genevieve. Ihr untrüglicher Instinkt – eine Gnade oder ein Fluch des Schicksals – täuschte sie bestimmt nicht. Auch Michelle hatte immer gleich gewusst, wie eine fremde Atmosphäre beschaffen war.
Miss Hester Trevelyan saß hoch aufgerichtet in einem vergoldeten Korbsessel, der eher einem Thron glich. Mit ihren knöchernen, von Arthritis gezeichneten Händen umklammerte sie die Oberarme. Sie wirkte alt und hinfällig, und Genevieve hätte sie eher auf neunzig als auf siebzig geschätzt.
Trotzdem präsentierte sie sich in vollem Staat. Das kimonoartige Gewand aus schwerer schwarzer Seide zeigte ein reiches Muster aus Gold, Pfauenblau und Gelb, der Farbe der Kaiser. In einem solchen Aufzug hatte die Kaiserinwitwe Cixi ihre Audienzen gegeben. Die kleinen Füße steckten in zierlichen chinesischen Pantöffelchen. Das weiße volle Haar war streng zurückgekämmt.
Zumindest haben wir die gleiche Frisur, dachte Genevieve in einem Anflug von Galgenhumor.
Das Einzige, was an dieser mumienhaften Gestalt Leben verriet, waren die dunklen Augen, die nichts an Ausdruck verloren hatten. Sie waren typisch für die Trevelyans, auch für Bretton. Während man seinen Blick als warm und lebensprühend bezeichnen konnte, musste man Hesters kalt nennen. Er drückte Hass auf das Leben aus.
Hester schaute Genevieve starr an. Kein Hauch von Wärme oder Wohlwollen ging von ihr aus. Erkannte sie in ihr Catherines Nachfahrin?
Genevieve bemühte sich, Hesters sezierendem Blick, dem nichts zu entgehen schien, standzuhalten. Wie ihr das gelang, wusste sie selbst nicht. Endlich brach Hester die angespannte Stille und fragte scharf: „Wer sind Sie?“
Ein eiskalter Schauer lief Genevieve bei der erbarmungslosen Frage über den Rücken. Sie musste tief Luft holen, als befürchtete sie zu ersticken. War es möglich? Glich sie Catherine so sehr, dass Hester sie wiederzuerkennen glaubte? Oder besaß sie ebenfalls das zweite Gesicht?
„Ich bin Genevieve Grenville“, antwortete sie, ohne ihre Irritation verbergen zu können.
„Das wollte ich nicht wissen.“ Ein kaltes, fast höhnisches Lächeln glitt über das Gesicht der alten Dame. „Haben Sie sich hier schon eingerichtet? Ich nehme an, das Zimmer übertrifft Ihre Erwartungen?“
„Alles hier übertrifft meine Erwartungen“, antwortete Genevieve gefasst. „Ich bin begeistert.“
„Tatsächlich? Sie sind hier, um zu arbeiten, Miss Grenville.“ Hester sagte das, als wäre Genevieve zum Fußbodenscheuern engagiert worden. „Bitte denken Sie daran, dass meine Gesundheit nicht die beste ist. Das wurde in meinem Brief ja auch erwähnt. Wenn wir während der Woche nicht arbeiten können, erwarte ich, dass Sie mir am Wochenende zur Verfügung stehen.“
„Ich hoffe sehr, dass es Ihnen immer gut geht, Miss Trevelyan“, erwiderte Genevieve wie eine folgsame Hofdame. Diese Rolle wurde offenbar von ihr erwartet. „Unser Projekt fasziniert mich.“
„ Mein Projekt, nicht wahr?“ Hester sah Genevieve weiter durchdringend an. Glaubte sie vielleicht, einen Geist zu sehen? Die Kaiserinwitwe Cixi wurde in Büchern oft als böse Zauberin des Ostens beschrieben. Hier konnte man ihrem westlichen Ebenbild begegnen.
„Natürlich ist es Ihres, Miss Trevelyan. Allerdings haben wir uns darauf geeinigt, dass mein Name ebenfalls auf dem Umschlag erscheint.“
Hester verbarg ihre Hände jetzt in den weiten Ärmeln des Kimonos. „Ja, schon gut“, erwiderte sie ausgesprochen unwillig. „Offenbar wollen Sie mir nicht entgegenkommen.“
„Ich bemühe mich darum.“
Das Demutsbekenntnis schien zu wirken, denn Hesters
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