Sehnsucht unter suedlicher Sonne
Züge glätteten sich. „Sie waren Lehrerin? Ist der Beruf nicht sterbenslangweilig?“
„Darf ich mich hinsetzen?“ Genevieve war bisher nicht dazu aufgefordert worden. Was konnte sie schon verlieren?
Hester zeigte auf den einzigen Stuhl, der nicht ganz so wertvoll aussah. „Nehmen Sie dort Platz.“
Genevieve ließ sich nieder, wagte aber nicht, sich anzulehnen. Sie saß genauso steif da wie ihre Arbeitgeberin, mit durchgedrücktem Kreuz und dicht nebeneinandergestellten Füßen.
„Ich habe gern unterrichtet“, bekannte sie ehrlich. „Ich fand es sogar anregend, denn in meinen Klassen gab es hochintelligente Mädchen.“
„Wie grässlich!“ Hester schauderte. „Ich habe absolut keinen Sinn für die Jugend. Was werden Sie mit Ihrem Haar machen?“
„In welcher Hinsicht, Miss Trevelyan?“ Offenbar hatte Hester eine Abneigung gegen rothaarige Menschen.
„Die Farbe passt nicht hierher“, erklärte Hester, ohne Genevieve eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Ihre helle Haut könnte sich als so empfindlich erweisen, dass Sie abreisen müssten.“
„Ich habe gut vorgesorgt“, versicherte Genevieve. „Trotzdem bedanke ich mich für Ihre Fürsorge. Ich habe genügend Sonnencreme mitgebracht und werde vorsichtig sein.“
„Das ist auch notwendig. Ich stelle fest, dass Sie eine angenehme Stimme haben. Ich reagiere sehr stark auf Stimmen und kann den australischen Akzent nicht ertragen. Und da ist noch etwas … die Brille. Sind Sie kurzsichtig?“
„Ein wenig.“
„Sie steht Ihnen nicht.“ Es klang teils ärgerlich, teils misstrauisch, als witterte Hester einen Betrug. „Sie können jetzt gehen. Ich habe Mrs Cahill bereits gesagt, dass ich heute Abend nicht herunterkomme. Sie werden wohl auch in Ihrem Zimmer essen?“
„Ich erwarte, mit der Familie am Tisch zu sitzen“, erwiderte Genevieve, ohne zu überlegen.
Damit hatte sie offenbar ein ehernes Gesetz verletzt, denn Hester erklärte ungnädig: „Zu meiner Zeit aßen Gouvernanten und ihresgleichen auf ihrem Zimmer oder in der Küche.“
Ihre Zeit ist vorbei, hätte Genevieve am liebsten gesagt und noch lieber hinzugefügt: Gott sei Dank . Leider wäre sie damit aus der Rolle gefallen. „Mr Trevelyan hat klar zum Ausdruck gebracht, dass ich mit der Familie speisen soll“, erklärte sie bescheiden.
Hester runzelte die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Dann fuhr sie jedoch fort: „Warum verbergen Sie eigentlich Ihr nettes Aussehen? Ich habe meine gute Beobachtungsgabe noch nicht eingebüßt, junge Dame. Wir haben hier draußen schon hübsche Frauen zu Besuch gehabt. Eine war sogar besonders schön.“ Die Stimme versagte Hester. Sie rang nach Luft und schlug dabei mit einer Hand auf die Armlehne ihres Sessels.
Genevieve ahnte, an wen sie dachte: an Catherine Lytton .
„Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“, fragte sie besorgt, aber Hester reagierte nicht darauf.
„Gehen Sie schon!“, keuchte sie und winkte hoheitsvoll mit der Hand. Sie wollte offenbar mit den Erinnerungen, die Genevieve in ihr wachgerufen hatte, allein sein. „Wir beginnen pünktlich um neun Uhr mit der Arbeit. Ihr Platz ist in der Bibliothek. Ich kann nur hoffen, dass Sie so gut sind, wie man mir versprochen hat.“
„Ich werde mir die größte Mühe geben, Miss Trevelyan. Guten Abend.“
Genevieve war schon an der Tür, als Hester einen letzten Warnschuss abgab. „Ich verlange Ergebnisse, Miss Grenville.“
Genevieve wandte sich um. Ihr Blick begegnete dem der alten Dame. „Die werden Sie bekommen.“
Oh ja, die werden Sie bekommen.
Genevieve bezweifelte keinen Moment, dass Hester an Catherine gedacht hatte – die junge Frau, die sie bis heute nicht hatte vergessen können. Ging es ihr selbst nicht genauso? Seit sie das Gespräch ihrer Großeltern mit angehört hatte, beschäftigte sie Catherines Schicksal. Manche Menschen verdrängten unangenehme Dinge aus der Vergangenheit, weil sie sie ohnehin nicht mehr zu ändern vermochten. Genevieve gehörte nicht dazu. Catherines Tod war ungeklärt und ungesühnt. Das hatte Nan ihr Leben lang gequält. Catherine konnte nicht mehr für sich selbst sprechen. Es war Genevieves aufrichtige Überzeugung, dass ihr diese Aufgabe zufiel.
Das Abendessen wurde im kleinen Speisezimmer eingenommen. Über dem modernen Tisch aus hellem Eichenholz, unter dem ein kostbarer moosgrüner Teppich lag, hing ein schwerer Bronzeleuchter, der dem ganzen Raum Licht gab. Von den acht rostrot gepolsterten Stühlen
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