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Sehnsucht

Sehnsucht

Titel: Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang R. Hantel-Quitmann
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starken, wiederkehrenden Schmerzen vor allem in den Beinen zu lindern, trank er viel Alkohol und nahm auch zeitweise Opium. Er starb mit 55 Jahren im Paradies am Ende der Welt.
    Wie kann man seine Sehnsüchte nach der Kunst und der Ferne verstehen, nach der Malerei und dem Paradies? Die nächstliegende Erklärung ist zugleich die einfachste: Als ein künstlerisch besonders begabter Mensch hatte er den verständlichen Drang, diese Begabung zu leben, weil er beim Malen seinem inneren Kern, seiner Identität oder seiner Bestimmung am nächsten war. Beim Malen hatte er sich selbst vergessen können, aber bei diesem Vergessen war er erst wirklich bei sich. Dieser Gedanke der Selbstvergessenheit, der sich am besten formuliert bei Hegel findet, stimmt wahrscheinlich für alle menschlichen Begabungen ebenso wie für das kindliche Spiel. Aber was beim Kind noch so spielerisch daherkommt ist für den Erwachsenen unabweisbar. Das Malen, Schreiben oder Komponieren ist kein reines Können, kein Konjunktiv, sondern eher ein Müssen, ein Imperativ. Nur wer malen, schreiben oder Musik machen muss, weil es seiner inneren Persönlichkeit, seinem Wesen und seinen Talenten entspricht, nur der ist wahrscheinlich in der Lage, auf viele angenehme Seiten des Lebens zu verzichten und zugleich Großes zu leisten.
    Der zweite Aspekt zum Verständnis der künstlerischen Sehnsucht geht auf Freuds Theorie der Sublimierung zurück. Sublimierung bedeutet Verfeinerung, also eine künstlerische Verfeinerung sexueller Impulse. Bis zur großen Wende im Leben des Paul Gauguin scheint auch die Sexualität keine besondere Rolle gespielt zu haben, aber mit der expressiven Malerei kam die wilde Sexualität und umgekehrt. Anscheinend hat der große, verrückte Vincent van Gogh ihn bereits auf diesen Zusammenhang hingewiesen, als er zu seinen Bildern ausrief: Großartig! Sie wurden nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Phallus gemalt. Bilder, die Kunst und Sünde zugleich sind. 22 Und er bat Paul ihm beizubringen, wie auch er mit dem Phallus malen kann. Sie haben sich in Arles künstlerisch inspiriert und angeblich hat Vincent seine Besuche bei den Huren aus der gemeinsamen Haushaltskasse bezahlt. Früher war er nur zwei Mal im Monat zu den Huren gegangen, aber nach Pauls eintreffen verspürte er den Drang, fortan zwei mal in der Woche zu ihnen zu gehen. Wenn diese erwachte Sexualität bei Vincent letztlich auf Paul zurückzuführen war, dann war es auch nur recht und billig, dass er die Hurenbesuche aus der Haushaltskasse mitbezahlte. Sie hatten zwei Kassen in zwei Kästen, eine für das Essen und eine für Tabak, Papier, Farben und Hygiene. Vincent verstand seine Hurenbesuche als eine Angelegenheit der persönlichen Hygiene. In Arles hatte Paul noch eine schlafende Sexualität, wirklich zum Durchbruch kam seine wilde Sexualität erst auf Tahiti. Für Paul Gauguin war der Zusammenhang zwischen seiner Malerei und der Sexualität eindeutig: Um wirklich malen zu können, muss man den zivilisierten Menschen abschütteln, der auf unseren Schultern hockt, und den Wilden herauslassen, den wir in uns tragen. 23
    Neben der Genialität und der Sexualität gibt es noch eine dritte mögliche Erklärung für die Sehnsüchte des Paul Gauguin und die bezieht sich auf seine Familiengeschichte. Seine Großmutter war Flora Tristan, eine uneheliche Tochter eines peruanischen Offiziers und einer französischen Mutter. Paul selbst hatte auch einige Jahre seiner Kindheit in Peru verbracht, bevor seine Eltern mit ihm nach Frankreich zurückkehrten. Seine Großmutter war 41 Jahre alt, als sie ihre Familie und ihr gesamtes bürgerliches Dasein hinter sich ließ und sich als soziale Revolutionärin für die Rechte der Arbeiter und insbesondere gegen die Unterdrückung der Frauen einsetzte. 50 Jahre später verließ ihr Enkel ebenfalls seine gutbürgerliche Existenz, um sich seiner Passion zu widmen. Es scheint in der Generationenfolge ein Muster zu geben, nach dem die Kinder angepasst reagieren und erst die Enkel den roten Faden der Großeltern wieder aufgreifen. Solche Muster nennen wir in der Familienpsychologie ein Vermächtnis, das im Falle von Paul Gauguin etwa so formuliert werden könnte: Verlasse deine bürgerliche Existenz und folge deiner Berufung!
    Wenn man alle drei Aspekte zusammendenkt, dann kommt in der Sehnsucht eine besondere

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