Sehnsucht

müssen. Natürlich hatte er sichdas als stolzer Latino niemals eingestehen können. Schon immer hatte er mit seinen erotischen Eroberungen geprahlt und bereits im zarten Alter von 20 Jahren ein Verzeichnis aller eroberten Frauen angelegt, in dem nicht nur der Name, das Alter und der Ort angegeben waren, sondern auch eventuelle erotische Vorlieben. Mehr als 500 Frauen sollen in dem Verzeichnis enthalten gewesen sein, als er seinen 50. Geburtstag feierte. Danach führte er die Liste nicht weiter, weil sein Körper nicht mehr so mitmachte und er auch nichts Schriftliches mehr brauchte, um für sich den Überblick zu behalten. Er hatte es also vorgezogen, sich und anderen in seinem Leben etwas vorzumachen. Nicht mal seine Hässlichkeit hatte er sich eingestehen können. Aber lag es nur daran, dass er keine Frau und Familie hatte haben können? Soweit kommt er in seiner Lebensbilanz gar nicht. Also bleibt er in seinem gewohnten Denken und Handeln: Eine neue Frau muss her, eine Jungfrau zum Geburtstag.
    Seine alte Freundin Rosa, mit der er in früheren Jahren so manche bezahlte Stunde verbracht hatte, betreibt seit Jahrzehnten ein heimliches Bordell. Er ruft sie an, äußert seinen auch für sie ungewöhnlichen Geburtstagswunsch, und sie antwortet nach einem spontanen Aufstöhnen, er verlange schlicht Unmögliches. Aber er insistiert, es müsse eine Jungfrau sein und genau in dieser Nacht. Rosa macht das Unmögliche möglich und bestellt ihn um zehn Uhr abends zu sich. In dem Zimmer trifft er das Mädchen schlafend an und wagt nicht, sie zu wecken. Und dann macht er eine Entdeckung, die ihn als einen sehr alten, aber zugleich moralischen Mann ehrt. In jener Nacht entdeckte ich das unglaubliche Vergnügen, den Körper einer schlafenden Frau zu betrachten, ohne vom Begehren gedrängt oder von der Scham behindert zu werden. 33 Er nennt sie Delgadina, ihren wirklichen Namen kennt er nicht und will ihn auch nicht wissen. Er bestellt sie immer wieder und stets lässt er sie schlafen, ohne sie zu berühren. Nur den Schweiß tupft er ihr leicht vom Körper, wenn sie nachts unter der unerträglichen Hitze leidet. Er spricht nicht mitihr, sie sieht ihn nie, nur auf den Spiegel im Bad schreiben sie sich manchmal eine Nachricht. Er fühlt sich mit ihr allein auf der Welt. Er beginnt sie auf eine tiefe Weise zu lieben, in seiner Phantasie wird sie zur Frau, zum Kind, zur Unschuld, zur Jugend und zum Synonym für die Liebe schlechthin. Er bringt ihr Geschenke mit, den Schmuck seiner Mutter ebenso wie ein Fahrrad zum Geburtstag, denn sie muss täglich durch die halbe Stadt mit dem Fahrrad fahren, um in die Fabrik zu gelangen, in der sie stundenlang am Tag Knöpfe annäht.
    Diese stille und einseitige Liebe verändert sein gesamtes Leben und mit ihr brechen alle bisher nicht gelebten Sehnsüchte auf: nach einer romantischen Liebesbeziehung, grenzenlosen Verliebtheit, glücklichen Partnerschaft mit Kindern, oder auch einem anderem Lebenskonzept und Lebensgefühl. Er beginnt die Klassiker der Weltliteratur zu lesen und interessiert sich zum ersten Mal in seinem Leben auch für die romantische Literatur. Seine wöchentliche Kolumne in der Zeitung, die er auch in seinem hohen Alter noch schreibt, gerät ihm zu einer einzigen Hymne an die Liebe und das Leben. Sein Chefredakteur bittet ihn, sich in seinen Liebeserklärungen zu mäßigen, weil sie in der Redaktion noch nicht wüssten, wie sie mit den vielen Leserbriefen umgehen sollten. Er wird zum »Meister der Liebe«, schreibt ergreifend sehnsuchtsvoll von seiner romantischen Liebe und denkt dabei immer an seine kleine Delgadina. Als Rosa ihm empfiehlt, ihr zum Geburtstag ein Fahrrad zu kaufen, probiert er es im Fahrradladen vor lauter verliebtem Übermut gleich selbst aus und schreibt am Wochenende darauf einen Zeitungsbeitrag zum Thema, wie man mit 90 auf dem Fahrrad glücklich wird.
    Es ist, als ob alle niemals gelebten Sehnsüchte aus diesem Mann herausbrechen. Sehnsüchte können schmerzen, je stärker ihre unerfüllte Seite bewusst wird. Als ein junger Mann wäre die Lebensbilanz vielleicht besonders schmerzlich gewesen. Er hätte sich eingestehen müssen, dass er es bislang nicht geschafft hatte, die Liebe zu leben, eine romantische Liebesbeziehung zu einerFrau aufzubauen, und er hätte weiterhin mit diesem Schmerz leben müssen. Diese Sehnsucht hätte viel