Sehnsucht
einem Land ins andere gereist: Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Costa Rica, Panama. Dabei hatte gerade Costa Rica einen unglaublich intensiven und bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Sie waren an die Nord- und die Südküste gefahren und hatten überall nur in billigen Unterkünften übernachtet, hatten sich von Reis mit Bohnen und frisch gepressten Fruchtsäften ernährt, die an kleinen Fruchtständen verkauft wurden, die an den StraÃen standen. Bevor er Costa Rica kennenlernte hatte er nie geahnt, dass es so viele verschiedene Schattierungen von Grün geben kann. Damals hatte er sich vorgenommen, irgendwann zurückzukommen, denn das Leben dort erschien ihm wie das Paradies: Die Menschen sind sehr freundlich und aufgeschlossen, es gibt keine groÃen politischen Konflikte, die medizinische Versorgung ist ausgezeichnet und eineder besten Südamerikas, das Klima ist tropisch mit einer üppigen Vegetation, das Leben relativ sicher und die Kriminalitätsrate niedrig. Alles das wusste er schon, aber dass er einmal dort leben wollte, war ihm bis zu seiner Jubiläumsfeier nicht klar gewesen. Seine kleine Tochter, die schon immer sehr nah an den Gefühlen ihres Vaters gewesen war, hatte es gemerkt. Als er die Fotos zeigte, habe sie es an seinen Augen gesehen, hat sie später einmal gesagt.
Und dann ging alles sehr schnell. Erst haben sie in der Familie viel miteinander geredet, und dabei haben alle gemerkt, wie begeistert Ingo war, wie viel jünger, lebendiger und lebensfroher er mit jedem Tag der Planungen wurde. Als sein Arbeitgeber ihm mitteilte, dass er es bedauern würde ihn zu verlieren, aber dass er jederzeit zurückkommen und seinen alten Arbeitsplatz wieder einnehmen könne, hatte auch seine Frau zugestimmt. Das Risiko war dadurch einfach geringer geworden, was hatten sie denn schon zu verlieren. Das Haus konnte leicht vermietet werden und die Miete würde die Hypothekenzahlungen sichern. Das Leben hier kannten sie alle und es lieà sich organisieren, viel schwerer war es, eine konkrete Vorstellung vom Leben dort zu bekommen. Sie überlegte die ganze Zeit, wie sie ihre durchaus positiven Urlaubsgefühle aus Costa Rica in ein Lebensgefühl verwandeln konnte, aber es gelang ihr nicht wirklich. Sie hatten nicht versucht, den Sohn Marcel zum Mitkommen zu überreden, eine befreundete Familie hatte schon frühzeitig gesagt, dass sie ihn bei sich aufnehmen würden, denn Marcel und ihr Sohn waren beste Freunde und im Haus war Platz genug. Aber als es dann soweit war und es nur noch wenige Wochen bis zur Abreise waren, da hatte er es sich plötzlich doch überlegt. Er bekam auch noch einen günstigen Flug über Miami und überraschte seine Familie mit einigem Insiderwissen über Costa Rica, das er sich aus dem Internet gezogen hatte. Die einzige Sorge der Tochter Miriam waren die Kaimane und Schlangen, während sie sich auf die Blumen freute. Insbesondere die Passionsblume mit ihren lila Schattierungen hatte es ihr angetan. Sie bringt die Maracuja- oderGranadilla-Frucht hervor, die übrigens angenehm süÃ-sauer schmeckt.
Im nächsten Jahr zur selben Zeit war Ingo Münzer schon nicht mehr in seiner Firma, er hatte in der Hauptstadt San Jose einen neuen Job bei einer Firma zur Chipherstellung gefunden. Elektroingenieure wurden auch hier gesucht und er war Spezialist auf seinem Fachgebiet. Die Kinder gingen zur Schule und seine Frau gab privat Deutschunterricht. Später hat Ingo einmal gesagt, dass er nur bereue, es nicht schon früher gemacht zu haben. Seine Sehnsucht hatte tief in ihm geschlummert, seine kleine Tochter hatte sie eher bemerkt als er selbst, und sie war plötzlich bei einer kleinen Feier hervorgebrochen.
Durch diese schlummernde Sehnsucht war die Familie in eine Krise geraten, die auch anders hätte ausgehen können. In diesem Fall hatten alle mitgezogen und gemeinsam das Beste daraus gemacht, obwohl sich das Leben für alle tiefgreifend geändert hat. Marcel ist mittlerweile zum Studium nach Deutschland zurückgekommen, aber der Rest der Familie lebt immer noch in Costa Rica.
Lebensbilanzen sind besonders riskant, wenn sie groÃe und persönlich bedeutsame Sehnsüchte auslösen und diese sich einfach nicht mehr realisieren lassen, weil die Zeit, die Mittel, die Möglichkeiten, das Geld oder die Unterstützung fehlen. Meistens gibt es sowieso stets mehr Gründe, dass eine
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