Sehnsucht

Sehnsucht nicht befriedigt wird, als den umgekehrten Fall. Deshalb empfehlen sich regelmäßige Lebensbilanzen für den einzelnen Menschen, wie für eine Partnerschaft oder Familie, damit man nicht irgendwann zu sehr überrascht wird. Aber selbst wenn dies dennoch geschieht, vielleicht erst im 90. Lebensjahr, und alle Mittel und Wege erschöpft scheinen, findet die Sehnsucht manchmal ungeahnte Möglichkeiten, doch noch erfüllt zu werden.
    Der 90. Geburtstag
    Manchmal können Lebensbilanzen dazu führen, dass beinahe alle Sehnsüchte des Lebens auf einmal hochkommen und zu einer emotionalen Überschwemmung führen, obwohl man in dem Alter gar nicht mehr daran denken würde. Wenn das Leben aus der Verdrängung oder einfach Verhinderung der Sehnsüchte bestand, man sich halt in seinem Leben eingerichtet hatte und die Sehnsüchte gar nicht mehr spürte, dann brechen eher irgendwann diese Dämme. Und wenn es sich dann nicht nur um eine Sehnsucht handelt, sondern um viele, die auch noch besonders bedeutsam sind, dann sind solche Überschwemmungen unausweichlich.
    Wie sieht die Lebensbilanz eines Menschen aus, der seinen 90. Geburtstag feiern möchte? Wir können eine grandiose Feier im Kreise einer großen Familie erwarten. Kinder, Enkelkinder und Urenkelkinder sollten alle daran teilnehmen und die Feier sollte so gestaltet werden, dass der Großvater auch seinen Mittagsschlaf halten kann, weil er sonst abends während der großen Feier einschlafen könnte. Er wird bestimmt nicht mehr so viel essen und wenn seine Frau auch noch lebt, dann werden sie gemeinsam gütig lächelnd den Tag des Jubiliars genießen. Wir denken bei dem Paar vielleicht auch an Philemon und Baucis, das bescheidene alte Paar aus den Metamorphosen des Ovid, das sich nichts sehnlicher wünschte, als gemeinsam zu sterben, nachdem sie so viele Jahrzehnte Seite an Seite verbracht hatten. Als der Gott Jupiter die Erde besuchte und die Gastfreundschaft der Menschen überprüfen wollte, wurde er überall abgewiesen, nur Philemon und Baucis baten den unerkannten und verkleideten Gott herein und gaben ihm noch von ihrer mageren Kost etwas ab. Als er sie daraufhin nach ihren Wünschen fragte, antworteten sie, dass sie nur einen Wunsch hätten: gemeinsam zu sterben und nach ihrem Tod als Bäume nebeneinander zu stehen, so dass die Zweige ineinander wachsen konnten und sie auf diese Weise weiterhin im Kontakt bleiben würden. Faust ist ihnen auf seinen Reisen ja auch begegnet, aber Mephisto sorgte dafür, dass ihr Haus abbrannte. Solche freundlichen Gedanken haben die Menschen, wenn sie an einen 90. Geburtstag denken: Die ganze Familie ist noch einmal zusammengekommen, es gibt keinen Streit, das alte Paar genießt den Tag in altersmilder Freundlichkeit und es werden viele schöne Geschichten erzählt.
    Wer denkt bei einem 90. Geburtstag schon an Sex? Da kann es sich nur um einen widerlichen alten Bock, einen ganz schrägen Film oder um die niemals endenden sexistischen Gedanken eines typischen Latino handeln. Gabriel Garcia Marquez hat die Geschichte eines ganz anderen 90. Geburtstages erzählt, die Geschichte von einem Mann, der sich selbst zu seinem 90. Geburtstag eine liebestolle Nacht mit einem unschuldigen Mädchen schenken wollte. 32 Der alte Mann weiß, dass er immer noch die Liebe sucht, im Grunde seit seiner Jugend nie damit aufgehört hat, aber in den späten Jahren ganz realistisch erkennt, dass Sexualität eben ein Trost ist, wenn die Liebe nicht reicht. Zeit seines Lebens war er einsam gewesen, hatte immer als Junggeselle gelebt und als mittelmäßiger Journalist gearbeitet, und war wegen seiner ausgesprochenen Hässlichkeit immer ein Liebling der Karikaturisten gewesen.
    In seiner ganz persönlichen Lebensbilanz kam er zu dem Ergebnis, dass sein Leben hätte anders verlaufen sollen. Auf ihrem Totenbett hatte er seiner Mutter versprochen, eine weiße Frau zu heiraten, mit ihr drei Kinder zu bekommen und seiner Tochter den Vornamen seiner Mutter und seiner Großmutter zu geben. Aber er hatte in seinem einsamen Leben sowohl die Ehefrau als auch die Heirat und die Kinder schlicht verpasst. Vielleicht hatte es an seiner besonderen Hässlichkeit gelegen, denn die war stets so deutlich gewesen, dass seine Chancen bei den Frauen gleich Null gewesen waren und so hatte er sich die Zuneigung der Frauen in Form von Sex kaufen