Sehnsucht
selbständig und erwachsen, befinden sich aber an einer langen, unsichtbaren Leine.
Delegationen
Kann man sich vorstellen, dass die Tochter eine Liebesaffäre ihrer Mutter fortführt, ohne dies zu wissen? Kann die Sehnsucht einer Frau nach ihrem Liebhaber, den sie einst verlieÃ, sich so auf ihre Tochter übertragen, dass diese 30 Jahre später sich hoffnungslos in diesen Mann verliebt? Diese Geschichte einer späten Verwirklichung einer Liebessehnsucht beschreibt Zeruya Shalev in ihrem Roman Liebesleben 52 . Es ist die Geschichte einer jungen Israelin, die sich zunächst in einer Amour fou verliert, um sich dann in ihr erst wirklich zu finden. Ihre Mutter liebte einen Mann, als sie so alt war wie sie heute. Sie lernte ihn als Krankenschwester kennen, verliebte sich in ihn, blieb aber trotz ihrer Liebe nicht bei ihm, weil sie von seiner Krankheit wusste, durch die er keine Kinder bekommen konnte. Sie wollte einmal Kinder haben, das war die eine Sehnsucht ihres Lebens, aber die konnte sie nicht mit ihm verwirklichen. Deshalb verlieà sie ihn, aber da sie ihn dennoch weiterhin liebte, wurde er zu einer zweiten stillen Sehnsucht, die sie selbst niemals befriedigen konnte und die für ihre Tochter das Leben sehr kompliziert machen sollte. Hier wird ein weibliches Dilemma geschildert zwischen der Sehnsucht nacheinem Kind und der Sehnsucht nach der groÃen Liebe des Lebens. Die Frau gibt die Liebe auf, um ihren Kinderwunsch mit einem anderen, weniger geliebten Mann zu befriedigen und Jahrzehnte später nimmt dafür ihre Tochter diese Liebesbeziehung wieder auf.
In der Familienpsychologie sprechen wir von Delegationen, wenn Kinder ihr Leben darauf ausrichten, die unerfüllten Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte ihrer Eltern zu verwirklichen und dabei gleichzeitig ihr eigenes Leben vernachlässigen. Delegation bedeutet vereinfacht, ein Kind mit einem Auftrag in die Welt zu senden. Dann versucht das Kind, die Sehnsüchte der Eltern zu verwirklichen, kann sich deshalb nicht wirklich ablösen und selbständig werden, und bleibt damit an die Eltern loyal gebunden. Allerdings darf man sich dies nicht als einen ausgesprochenen oder offenen Wunsch oder gar einen liebevollen Befehl vorstellen, sondern eher als ein stilles und subtiles Zusammenspiel verschiedener Gefühle innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung. Die Eltern signalisieren manchmal ohne dass sie es selbst merken, welche Wunschträume sie einmal gehabt haben oder heute noch hegen. Dann bekommen sie beim Erzählen leuchtende Augen, werden aufgeregt oder plötzlich munter, sind ganz fasziniert und engagiert.
Kinder nehmen schon in sehr frühem Alter solche intensiven Gefühle der Eltern wahr und stellen ihr eigenes Verhalten darauf ein. Es sind Gefühle ohne Worte, die solche bedeutungsvollen Botschaften in Eltern-Kind-Beziehungen transportieren. Daran erkennt das Kind, was wichtig und unwichtig, faszinierend und langweilig, erstrebenswert und wertlos ist. Das Kind erfühlt die elterlichen Sehnsüchte und integriert sie mit hoher Priorität in das eigene Lebenskonzept. Die elterlichen Reaktionen und Erwartungen sind immer bedeutsam für die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit und die Beurteilung des kindlichen Verhaltens. Sie werden vom Kind verinnerlicht und damit zur Leitschnur ihres eigenen zukünftigen Handelns. So erfährt dasKind durch die offenen und verdeckten Reaktionen und Erwartungen der Eltern, ob es etwas gut oder schlecht gemacht hat. Folglich wird das Gute stolz wiederholt und herausgestellt, während das Schlechte schamhaft verborgen und zukünftig unterlassen wird.
Stolz und Scham sind zwei Seiten der gleichen Medaille und zugleich besonders wichtig für den Selbstwert eines Kindes. Jedes Kind will von stolzen Eltern geliebt werden und reagiert mit Scham, wenn es den elterlichen Wünschen, Ansprüchen und Sehnsüchten nicht entsprechen kann. Damit entsteht in der frühen Eltern-Kind-Beziehung bereits ein differenziertes System an Gefühlen, das für die Kinder eine Art Leitschnur für die Bewältigung des eigenen Lebens wird. Der englische Kinderpsychiater John Bowlby hat dies das innere Arbeitsmodell â inner working model  â genannt, das bei den Kindern schon sehr früh aus der emotionalen Beziehung zu den Eltern entsteht. Und dieses innere Arbeitsmodell beinhaltet nicht nur Handlungsstrategien und Gefühle, wie Stolz und Scham oder
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