Sehnsucht
Stunden.
Das ist Relativität.
Albert Einstein
Leben jedoch,
müde der weltlichen Beschränkungen,
besitzt immer die Macht,
sich selbst zu entlassen.
Shakespeare, Julius Cäsar
Es ist eine uralte Sehnsucht des Menschen, jenseits von Raum und Zeit zu leben, die Zeit nach Belieben vorwärts oder auch rückwärts drehen und in besonderen Momenten auch anhalten zu können. So sehr unsere Körper uns daran erinnern, dass wir biologische Wesen sind, die leben, um irgendwann zu sterben, so sehr versucht unser Geist diese natürlichen Beschränkungen sehnsüchtig zu überwinden. Wie wäre eigentlich unser Leben, wenn wir jenseits von Raum und Zeit leben könnten und wenn es keinen Tod mehr gäbe? Dann wären wir endlich unsterblich wie die Götter, aber das Leben würde dadurch ganz schön kompliziert.
Eine Zeit ohne Tod
Am darauffolgenden Tag starb niemand . Mit diesem lapidaren Satz beginnt eines der erstaunlichsten Werke der modernen Literatur über den Tod, an dem Franz Kafka sicher seine groÃe Freude gehabt hätte. Jose Saramago hat ein Buch geschrieben über Eine Zeit ohne To d 60 , in dem er wahrhaftig, konsequent und konkret die Frage zu Ende denkt, wie denn das Leben in einem Land wäre, in dem es keinen Tod mehr gibt.
Die Feuerwehrleute ziehen verletzte, blutende Menschen aus den Trümmern eingestürzter Häuser oder zerstörter Autos nach schweren Unfällen, aber keines dieser Unfallopfer stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus und auch nicht danach. Man musste feststellen, der gröÃte Menschheitstraum aller Zeiten, nämlich das ewige Leben auf Erden, sei nun Allgemeingut geworden , aber die daraus folgenden Probleme waren unübersehbar. Die Regierung richtet einen Krisenstab ein und mahnt zur Besonnenheit. Die Kirche ergreift eine wahre Panik, denn wie soll man die Menschen zu einem gottesfürchtigen Leben und vor allem in die Kirchen bringen, wenn die Unsterblichkeit zum Alltag geworden ist. Tröstlich erscheint da nur, dass auÃerhalb der Landesgrenzen weiterhin gestorben wird. Die Menschen hissen vor lauter Begeisterung und patriotischem Eifer in einer spontanen Aktion überall im Land die Nationalflagge. Nicht wenige allerdings waren unzufrieden mit dieser neuen unerklärlichen Situation, allen voran der nationale Verband der Bestattungsunternehmen. Ebenso klagten die Krankenhäuser über eine unerträgliche Ãberfüllung; wenn nicht bald wieder gestorben würde, käme es zu einem Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystems. Auch das Versicherungsgewerbe fragte sich, wie denn nun mit den Lebensversicherungen zu verfahren sei. Und Philosophen und Kriminologen diskutieren die Frage, ob nicht auf einmal alles erlaubt wäre, wenn die Menschen nicht mehr sterben würden. Barmherzige Menschen machen sich heimlich mit den halbtotenKörpern ihrer noch lebenden Angehörigen nachts auf den Weg, diese unsterblichen Menschen an geheimen Orten über die Grenzen zu schaffen, damit sie dort endlich und in Frieden sterben können. Denn so manches Mal sehen sie auch ihre Erbschaften in Gefahr, man hat schlieÃlich damit gerechnet und muss Kredite zurückzahlen. Von diesen nächtlichen Sterbefahrten ins Ausland profitieren natürlich Schieberbanden und Transportunternehmen, dabei entstehen vollkommen neue Märkte mit ungeahnten Profitraten. Deshalb stellt die Regierung an den Grenzen Wachen auf. Doch dann beklagten sich die Wachleute zunehmend über Drohanrufe, in denen man ihnen riet, bei den illegalen Todkrankentransporten ein Auge zuzudrücken 61 . Von Regierungsseite wird über eine groÃe Werbekampagne nachgedacht, bei der die Menschen dazu aufgerufen werden sollen, die todkranken Angehörigen aus Barmherzigkeit nach Hause zu sich zu nehmen. Aber die Mafia macht zu einem attraktiven Pauschalpreis das Angebot, unkompliziert unsterbliche Angehörige über die Grenzen zu entsorgen. Die Nation ist angesichts der groÃen Probleme tief gespalten, das öffentliche Leben weitgehend lahm gelegt, man diskutiert nur noch ein Thema. Was war passiert? Der Tod hatte aufgehört zu töten! Der Tod ist eine zeitlose Dame, die in ihrer Arbeit plötzlich und für sie unerklärlich nachlässig geworden war. Sie hatte vergessen, einem nur mit seinem Hund lebenden Cellisten den Todesbrief zu schicken und der war daraufhin eben nicht gestorben, obwohl er auf ihrer Liste stand. Tod hatte sich
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