Sehnsucht

kritisierten Zustände bei weitem übertraf. Aus der positiven Utopie war eine negative geworden, aus der Sehnsucht nach dem Paradies war die Sehnsucht nach dem Ende der Hölle entstanden.
    Die negativen Staatsutopien oder die Sehnsucht nach dem Ende der Hölle
    Kaum ein Buch hat die Kritik am Stalinismus als einer inhumanen und totalitären Schreckensherrschaft so einfach und zugleich eindringlich beschrieben, wie der 1945 erschienene Roman Farm der Tiere (Animal Farm) von George Orwell. Es ist eine Satire, eine Fabel und eine negative Utopie (Dystopie) in einem. Von der Oktoberrevolution bis zur stalinistischen Diktatur wird die Geschichte der Sowjetunion anhand einer Tierfarm dargestellt, bei der die Schweine unter ihrem Anführer Napoleon zunächst den Bauern Jones vom Hof jagen und schließlich das Regiment auf dem Hof übernehmen. An die Stelle der alten Herrschaft des Bauern (Zaren) tritt die subtile Herrschaft der Schweine (Bolschewistische Partei). Die Farm der Tiere wurde von vier Verlagen in England abgelehnt, wohl weil man diplomatische Komplikationen befürchtete. In der Sowjetunion wurde es sehr schnell auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt, weil die Menschen das Buch politisch verstanden hätten. Es kommt also nicht nur darauf an, wie die utopischen Sehnsüchte oder Ängste beschrieben und formuliert werden, sondern auch darauf, wie sie gelesen und verstanden werden.
    Aber der Stalinismus war leider nicht das einzige Schreckenssystem in der Geschichte der Menschheit. Vor allem Deutschland hat durch die zwei von Ihnen ausgehenden Weltkriege einen grausamen Beitrag geleistet. Das vergangene 20. Jahrhundert hat die Menschen auf einzigartige Weise mit der Hölle vertraut gemacht und damit auch ihren Sehnsüchten eine neue Qualität verliehen. Man denke nur an die allein 20 Millionen Tote durch den Zweiten Weltkrieg in Russland, sechs Millionen systematisch ermordeten Juden, ganz zu schweigen von den Folgen des deutschen Faschismus, wie Hunger, Vergewaltigungen, Flucht und Vertreibung. Durch Auschwitz hat die Menschheit von der Hölle eine konkrete Vorstellung und vom Teufel ein Gesicht bekommen, es ist ein deutsches. Für die Völker Europas und auch die meisten Familien im nationalsozialistischen Deutschland war das Ende des Krieges die größte Sehnsucht, für die Juden im Warschauer Ghetto noch mehr als das. Häufig wünschten sich die Menschen nichts sehnlicher, als dass dieser unmenschliche Zustand möglichst bald beendet sei.
    Und heute? Der Krieg in Afghanistan, die Menschen in Darfur, die Kriege in Angola, die drei Golfkriege im Irak, die jahrzehntelangen Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarn, die Kriege und Pogrome im ehemaligen Jugoslawien, die eingeschlossenen Menschen im Gazastreifen, den bewaffneten Konflikt um Kaschmir, die Guerillakämpfe in Kolumbien, die Hungersnöte in Nordkorea und den Konflikt mit Südkorea, das Leben der Birmesen unter der Diktatur des Militärs in Myanmar, die Drogenkriege in Mexiko, den Bürgerkrieg in Somalia, die chinesische Besetzung Tibets, die Konflikte in Tschetschenien und den anderen kaukasischen Republiken – all dies sind nur einige wenige Beispiele unserer heutigen Zustände. Die Menschen in diesen Konflikten und Kriegen haben eine sehr prägende und größtenteils traumatische Erfahrung mit der Hölle gemacht und ihre Sehnsüchte beziehen sich wahrscheinlich auf nichts mehr als ein menschenwürdiges Leben in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung.
    Negative Utopien setzen in der Regel erst einmal an einzelnen Bedrohungen an: so die Angst vor einer Sintflut, wie im Film Waterworld mit Kevin Costner, die Angst vor einem Weltuntergang, wie im Film Armageddon mit Bruce Willis oder die Angst vor einem totalen Überwachungsstaat wie im Film Matrix mit Keanu Reeves. In diesen Filmen werden Ängste unseres heutigen Lebens in Szene gesetzt, meist ist der Hauptdarsteller der Held des Films und damit zugleich der Retter der Menschheit. Sie sind auf unterhaltsame Weise eine Art Befriedungs- und Beruhigungsstrategie: Man kennt scheinbar die Gefahr und kann ihr mit Heldentum effektiv begegnen. In der Regel ist dies eine extreme Verharmlosung.
    In der Kunst und Kultur, der Musik, dem Theater oder der Literatur werden die menschlichen Sehnsüchte, Erfahrungen, Ängste und Verletzungen nie nur widergespiegelt oder abgebildet, sondern es liegt darin immer auch