Sehnsucht

der Versuch, sie zu verarbeiten. Obwohl er sich immer gegen eine solche Interpretation gewehrt hat, sind die Auswirkungen der beiden Weltkriege auf den Roman Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien kaum zu leugnen. Dieser Roman gehört zu den erfolgreichsten des 20. Jahrhunderts und wurde weltweit mehr als 120 Millionen Mal verkauft. Vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Fantasiewelt wird die Geschichte eines Rings erzählt, hinter dem sich der Kampf des Guten gegen das Böse verbirgt, zwischen dem Paradies und der Hölle, den kindlich-freundlichen Hobbits und dem bösen Herrscher Sauron.
    Wie nah liegt eine negative Utopie an der heutigen Wirklichkeit? Diese Frage ist nicht nur dramaturgisch entscheidend, sondern auch inhaltlich. So ist der bereits 1932 erschienene Roman Schöne neue Welt von Aldous Huxley für alle Menschen der westlichen Kulturen wahrscheinlich besonders einprägsam und in seinen utopischen Visionen beklemmend. Aus heutiger Sicht kommt er unserer Realität in vielerlei Hinsicht mittlerweile bedrohlichnahe. Konsum, Sex und Drogen sind beherrschende Themen einer Gesellschaft im Jahre 2540. Dagegen sind Liebe, Freiheit, Religion oder Kunst aus dem Leben der Menschen verschwunden; Museen wurden geschlossen, Denkmäler zerstört und die meisten Bücher sind verboten. Aus psychologischer Sicht besonders dramatisch ist der Verlust echter Gefühle. Menschen werden durch künstliche Befruchtung gezeugt, wobei über die Sauerstoffzufuhr die Intelligenz und damit die automatische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht gesteuert wird. Dies setzt sich fort in Brutkästen, pädagogischen Zentren und einem Leben in Reservaten. Von der Geburt bis zum Tode wird das Leben gesteuert, die Menschen werden durch Belohnung und Bestrafung konditioniert, und bereits in den Aufzuchtanstalten werden die Kinder während des Schlafes mit Tonbandbotschaften zu glücklichen, zufriedenen und dumpfen Geschöpfen erzogen. Die Sexualität mit häufig wechselnden Partnern ist zu einer oberflächlichen, mechanischen und vergnüglichen Form des Zeitvertreibes geworden, denn Gefühle gefährden die Stabilität der Weltregierung. Hier ist das Individuum zu einem Zombie geworden, einem konditionierten Wesen, das sich selbst glücklich schätzt. Eine Droge namens Soma wird von allen regelmäßig eingenommen, sie wirkt sexuell stimulierend und psychisch aufhellend. Das Alter wird mit Sport und Kosmetika retuschiert, danach geht es sehr schnell zu einem gut organisierten Sterben. Henry Ford und Sigmund Freud sind zu Göttern stilisiert worden, anstelle von Oh Gott erklingt nun der Ausruf Oh Freud . Nicht nur Woody Allen wäre hier wahrscheinlich der Meinung, dass diese Fiktion aus dem Jahre 1932 viele Aspekte der heutigen Wirklichkeit vortrefflich beschrieben hat. Wer das Buch heute liest bekommt das Gefühl einer satirischen Kritik des modernen Zeitgeistes.
    Und wem diese Schreckensvision noch nicht reicht, für den gibt es einen weiteren Klassiker, der im Entwurf einer Anti-Utopie noch einen Schritt weiter geht: 1984 von George Orwell.Dieser Roman wurde unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1946 geschrieben, erschien 1949 und handelt von den menschlichen Folgen eines totalitären Überwachungsstaates, in dem jegliche Individualität ausgelöscht ist. Der Alltag der Menschen wird ständig und überall technisch überwacht und die persönlichen Beziehungen der Menschen werden beherrscht von Misstrauen und Angst. Der »Große Bruder« sieht, hört und weiß alles und hat vor allem immer Recht. Die Wirklichkeit wird stets umgeschrieben, der Krieg wird in Frieden umgedeutet, die Ignoranz in Stärke, die Sklaverei in Freiheit. Und die totale alltägliche Überwachung reicht bis zur Sprache und zum Denken der Menschen. Politisch Abweichende werden nicht nur liquidiert, auch die Erinnerungen an ihr gesamtes Leben werden nachträglich gelöscht, so als ob sie niemals gelebt hätten.
    Winston Smith arbeitet beim Ministerium für Wahrheit und seine Arbeitsaufgabe besteht darin, ständig die Wahrheit und Geschichte so zu fälschen, dass sie den wechselnden aktuellen Interessen der Staatsführung angepasst sind. Innerlich kann er sich weder mit seiner Arbeit noch dem Staat identifizieren, aber bereits abweichende Gedanken gelten als Verbrechen (thoughtcrimes). Sein Leben wird durch Video und