Sehnsucht
Gesellschaft existiert, schon gar nicht das Paradies, und müssen daher unsere Wunschvorstellungen in die ferne Zukunft projizieren.
Fast 500 Jahre nach dem Erscheinen des ersten und zweitens Buches der Utopia und nach Hunderten von Interpretationsversuchen dieses auÃerordentlichen Werkes der politischen Philosophie rätselt die Fachwelt immer noch, was der Autor Thomas Morus der Welt damit sagen wollte. Alle möglichen Wissenschaften können sich auf das Buch mit Recht berufen und es als ihr Grundlagenwerk reklamieren: Sozialisten und Kapitalisten, Christen und Heiden, Machiavellisten und Reformer.
Obwohl es gar nicht so einfach ist, die Sehnsucht nach einem menschlichen Zusammenleben konkret werden zu lassen, hat Thomas Morus den Entwurf einer utopischen Gesellschaft detailliert ausformuliert: Zunächst beschreibt er genau die Geografie des Landes, dann die Städte, die Obrigkeiten, die Handwerke, den normalen Tagesablauf in Utopia, den Umgang der Utopier miteinander, ihre Reisen, die Rolle der Sklaven, das Kriegswesen, ihre religiösen Anschauungen, das Gemeinwohl, die Verfassung und Gesetzgebung und auch das Verschwinden der Religion. Er ist natürlich ein Mann seiner Zeit, wenn er schreibt: Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei bestraft ⦠Die Ehemänner züchtigen ihre Frauen, die Eltern ihre Kinder  ⦠89 Aber in den meisten impliziten Ansichten ist er ein Vorläufer der Aufklärung. So freut er sich darüber, dass dort mit dem Gebrauch des Geldes zugleich die Geldgier gänzlich beseitigt ist ! 90 Auch er ist für die Abschaffung des Privateigentums, hält die Armut für die Folge einer egoistischen Machtpolitik einer reichen Minderheit über eine verarmte Mehrheit und führt die Kriminalität wiederum auf die Armut zurück.
Zur Rolle der Religion schreibt er: Der weitaus vernünftigste Teil des Volkes glaubt an nichts von alledem ⦠91 Er schlägt vor,man solle von den 24 Stunden des Tages nur sechs davon der Arbeit widmen: drei vormittags, worauf sie zum Essen gehen; nach dem Mittagessen ruhen sie dann zwei Nachmittagsstunden, arbeiten wieder drei Stunden und beschlieÃen den Arbeitstag mit dem Abendessen. 92 Wenn es kein privates Profitstreben gebe, kein Kampf um die Vermehrung des Vermögens oder die Sicherung der Märkte und die meisten Menschen glücklich und zufrieden wären, dann gebe es auch keinen Grund für eine Massen-Aggression wie den Krieg: Den Krieg verabscheuen die Utopier aufs höchste als etwas ganz Bestialisches. 93 Und am Ende gesteht er, dass es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung 94 . Das wichtigste ist für ihn die Freiheit und Pflege des Geistes , darin liege nach Meinung der Utopier das Glück des Lebens . 95
Waren die utopischen Ãberlegungen von Thomas Morus nichts anderes als eine bloÃe Schimäre, ein phantastisches Ideal jenseits einer realistischen Chance auf Verwirklichung? Friedrich Engels hat diesen Vorwurf in seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft erhoben. Aber muss man sich denn bei der Konzeption einer Utopie immer auch die Frage ihrer Realisierungsmöglichkeiten stellen? Macht es nicht gerade den Reiz einer Utopie aus, dass sie fantastisch, fiktiv oder satirisch daher kommt? Und wie haben Karl Marx und Friedrich Engels dieses Problem gelöst? Beide waren groÃe Humanisten und äuÃerst profund in ihrer philosophischen und sozialökonomischen Kritik des Kapitalismus, aber dagegen eher unbestimmt kämpferisch in ihrem positiven Gesellschaftsentwurf, wie er im Kommunistischen Manifest entwickelt wurde. Vollkommen gescheitert sind die marxistischen Konzeptionen aber vor allem in ihren leninistischen Realisierungen, sofern das eine mit dem anderen überhaupt etwas zu tun hatte. Hier haben sich die positiven Utopien und die damit verbundenen Sehnsüchte in ihr Gegenteil verkehrt. Aus den Sehnsüchten nach einer humanen Gesellschaft entstanden in nur wenigen Jahren tiefe Sehnsüchte nach dem baldigen Ende dieses gesellschaftlichen Experiments, das sich unter Stalin zu einem Archipel Gulag (Alexander Solschenizyn) entwickelt hatte. Denn durch die Ausbeutung, Unterdrückung und Entmündigung der Menschen im Kapitalismus war eine totalitäre Schreckensherrschaft entstanden, die die vorherigen
Weitere Kostenlose Bücher