Sehnsuchtsland
Achseln. »Es wird Zeit, dass wir wieder miteinander reden. Lass uns einfach morgen hinfahren. Ich stelle dich ihm vor, und gleichzeitig laden wir ihn zu unserer Hochzeit ein.«
»Morgen?« Nils holte eine Akte aus dem Koffer und fing an zu blättern. »Im Prinzip gerne, aber ich habe den ganzen Tag Termine, die... «
»Bitte Nils!« Linda langte über den Tisch und nahm seine Hand. »Es ist mir wichtig! Wir fahren morgen hin und übermorgen zurück. Tu es für mich, ja?«
Nils lächelte ergeben. »Wenn es dir so wichtig ist.« Er drückte ihre Hand. »Wenn ich es mir recht überlege, wollte ich schon immer den Mann kennen lernen, der eine so niedliche Tochter zustande gebracht hat.«
Das brachte sie zum Lachen, und sie stießen erneut mit Champagner an.
*
Das Anwesen der Thorwaldssons stammte aus den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und lag direkt am Meer, an einer Stelle, wo zahlreiche Schären der Küste vorgelagert waren, welche die Wucht des Windes abschwächten und zumindest den Sommer über in dieser Bucht für ein milderes Klima sorgten. Das Haus war in der üblichen schwedischen Holzbauweise errichtet worden und zeugte mit diversen, fürjene Zeit typischen Extravaganzen davon, dass der damalige Besitzer — Lennarts Vater — an nichts hatte sparen müssen. Es war eine verschachtelte, perlgrau gestrichene Villa mit mehreren Veranden, Erkern und hohen Fenstern, die zur Meerseite hin einen atemberaubenden Ausblick über die Bucht boten und landeinwärts auf einen weitläufigen Park wiesen, der jenseits der sorgfältig geharkten Kieswege und der gepflegten Rasenflächen in Wald überging.
Lennart saß auf der windgeschützten Terrasse seitlich vom Haus, die Jagdhunde zu seinen Füßen. Nachdem er das Gewehr gereinigt hatte, überlegte er kurz, ob noch Zeit für einen Streifzug durch den Wald blieb, doch ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass es sich nicht mehr lohnte. Er kannte nicht viele Menschen, die jederzeit und hundertprozentig pünktlich waren, aber Greta Kronberg war einer davon. Sie würde in spätestens fünf Minuten hier eintreffen, also beschränkte Lennart sich darauf, in dem Sachbuch zu schmökern, das er kürzlich bestellt hatte, eine ausgezeichnete historische Abhandlung über die frühe Besiedelung Norrlands .
Er hatte sich gerade in die Abbildung eines Grabhügels vertieft, als Greta auf ihn zukam, einen besorgen Ausdruck in den Augen und, zu seinem besonderen Verdruss, ihren Arztkoffer in der Hand.
Im Vorbeigehen tätschelte sie einem der beiden Hunde den Kopf. »Na, ihr Hübschen, passt ihr gut auf euer Herrchen auf?« Lennart wollte aufstehen, doch sie war schon bei ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, sodass er notgedrungen sitzen bleiben musste. Sie gab ihm einen Kuss auf die Schläfe und griff gleichzeitig nach seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen.
»Sag mir die Wahrheit, Lennart. Hast du immer noch Beschwerden?«
»Mir war kurz schwindlig, sonst nichts«, wehrte er ab.
»Natürlich, sonst nichts. Deshalb hast du auch vorzeitig das Büro verlassen. Das hast du meines Wissens in den letzten dreißig Jahren nur einmal getan.«
Lennart beschloss, Henrik bei der nächsten Gelegenheit die Leviten zu lesen. Der Bursche hätte den harmlosen Zwischenfall auch einfach für sich behalten können, dann würde Greta jetzt nicht diesen Aufstand veranstalten. Nicht, dass er es nicht ganz gern hatte, wenn sie sich um ihn kümmerte, vor allem, wenn sie, so wie jetzt, seine Hand dabei nahm und sich über ihn beugte. Aber er hasste den Gedanken, in ihren Augen alt oder krank oder beides zu sein. Er war im Vollbesitz seiner Kräfte, und niemand sollte auf die Idee kommen, sich etwas anderes einzubilden.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Lennart.« Sie öffnete ihren Koffer.
»Was ist, willst du mich ins Grab reden?« Er musterte sie, halb verärgert, halb amüsiert. »Ich fühle mich wie dreißig!«
Unbeeindruckt streifte Greta ihm eine Blutdruckmanschette über und kontrollierte die Werte. »Immer noch viel zu hoch.« Sie schaute ihn besorgt an. »Ich meine es wirklich ernst, du musst endlich kürzer treten. Du spielst mit deiner Gesundheit.«
»Sag mir lieber, ob du Zeit hattest, nach dem Rasmussen zu suchen.«
Greta packte das Blutdruckmessgerät zurück in den Koffer. »Tut mir Leid. Der Antiquar sagte, er hätte vor zwanzig Jahren einmal ein Exemplar gehabt, aber seitdem nicht mehr.« Sie schloss den Koffer und wandte sich ihm erneut zu. »Hör mir
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