Sehnsuchtsland
zunächst befürchtet hatte. Er hatte nicht nur begonnen, sich mit dem Scheitern seiner Ehe abzufinden, sondern merkte inzwischen, dass er sogar anfing, das Alleinsein zu genießen. Es war ein zaghaftes, stündlich wachsendes Gefühl von Freiheit.
»Eigentlich hätte ich längst merken müssen, dass es nicht mehr ging«, sagte er zu Lennart. »Wir sind uns schon seit einer Weile fremd geworden. Aber ich wollte es wohl nicht wahrhaben. Vielleicht habe ich auch gehofft, dass alles von allein wieder ins Lot kommt.« Er wechselte bewusst das Thema. »Was ist mit dir, was willst du jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht.« Lennarts Blick ging in die Ferne. »Ich stehe vor den Trümmern meiner Arbeit. Für wen habe ich denn all die Jahre geschuftet? Doch nur für meine Mädchen! Sie sollten einen gesunden Betrieb übernehmen.« Verbittert schaute er zu Boden. »Jetzt bin ich fast siebzig, und sie lassen mich im Stich.«
Sie stapften nebeneinander her durch den Wald. Ihre Stiefel versanken in dem feuchten, mit Moos und Flechten überwucherten Boden.
Lennart ließ die Hunde laufen, dann wandte er sich zu Henrik um. »Willst du nicht mein Nachfolger werden?«
Henrik lachte, er wusste, dass Lennart das lediglich aus einer Laune heraus gefragt hatte. »Vielen Dank für das Angebot. Aber ich bin Designer, als Geschäftsführer tauge ich nichts.«
Lennart ging nicht weiter auf das Thema ein, womit Henriks Einschätzung sich bestätigte.
»Es geht einfach nicht in meinen Kopf!« Lennart breitete aufgebracht die Hände aus. »Meine Töchter haben für ihr Leben andere Prioritäten gesetzt!« Er spie den letzten Satz förmlich hervor.
Henrik dachte bei sich, dass besagte Töchter vielleicht weniger Probleme mit ihrem Vater gehabt hätten, wenn dieser sich hin und wieder etwas liebenswürdiger gezeigt hätte. Natürlich wusste jeder, der Lennart kannte, wie gutherzig der Alte im Grunde seines Wesens war. Weicher Kern unter harter Schale, wie es so schön hieß. Aber das konnte mitunter auch ziemlich anstrengend sein für die Menschen, die tagtäglich mit ihm auskommen mussten. Vor allem für jemanden, der so sensibel war wie Linda.
Linda... Ja, sie war über alle Maßen sensibel. Und nicht nur das. Sie war klug, gefühlvoll, liebenswert. Sie hatte den reizvollsten Mund und die herrlichsten seegrünen Augen, die Henrik je gesehen hatte...
Er merkte erst, in welche Richtung seine Gedanken abschweiften, als Lennart knurrig weitersprach . »Ich versuche, das Undenkbare zu denken: den Verkauf der Werft.«
Das traf Henrik völlig unvorbereitet. »Aber das kannst du nicht machen!«, rief er aus. »Die Werft ist seit Generationen in Familienbesitz!«
»Henrik, was soll ich denn machen?«, versetzte Lennart mit scharfer Stimme. »Ich hätte mir vorher nicht einmal im Traum vorstellen können, das zu tun! Aber ich kann Gunilla ja schlecht zwingen, hier zu bleiben!«
»Und Linda?« Henrik hatte es ausgesprochen, bevor er großartig darüber nachdenken konnte, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, in den Augen des Alten etwas aufblitzen zu sehen, was seit dem desaströsen Dinner letzte Woche nicht mehr da gewesen war: Hoffnung.
Doch Lennarts nächste Worte schienen diesen Eindruck ad absurdum zu führen. »Linda?« Es klang abfällig, beinahe verächtlich. »Die hat sich schon lange für einen anderen Weg entschieden.«
»Aber was willst du denn dann tun? Du wirst mir doch nicht erzählen, dass du dich in den Lehnstuhl setzen und Schach spielen willst!«
Lennart blieb stehen. »Ich habe schon lange einen Traum.« Er lächelte zögernd und ein wenig verlegen. »Ich will die Geschichte Norrlands studieren. Vor Ort. Die Wurzeln meiner Familie liegen hoch im Norden, noch hinter Kiruna am Tornetræsk-See .« Er hielt inne und suchte nach Worten, um es besser erklären zu können. »Es hat mich immer schon interessiert, woher ich komme«, fuhr er schließlich fort. »Ich finde, das ist genauso wichtig wie das Wissen, wohin man geht.«
Er wandte sich ab und pfiff seinen Hunden, bevor er mit gesenktem Kopf davonging. Henrik schaute seinem Schwiegervater nach, bis dieser in der Tiefe des Waldes verschwunden war.
Dann schwang er sich mit einer gleitenden Bewegung in den Sattel und trieb Fjäril an den Bäumen vorbei wieder zurück auf das offene Feld.
*
Linda schritt die Reihe der Ausstellungsstücke ab und verglich ihr Aktenmaterial mit den einzelnen Exponaten in den Schaukästen, liebevoll gestaltete Schiffsmodelle aus
Weitere Kostenlose Bücher