Sehnsuchtsland
selbst sein, ohne trübe Erinnerungen und ohne die erschreckenden Gedanken, die sie während der ganzen Rückfahrt geplagt hatten. Sie wollte alles vergessen. Ihren Vater, Gunilla — und Henrik. Vor allem Henrik.
Nils kam ihr entgegen, ein ungewohnter Anblick in seinem Freizeitlook. Tagsüber lief er meist in feinem Zwirn herum, und es kam in letzter Zeit immer seltener vor, dass er einmal Rolli und Jeans trug statt Armani oder Boss.
» Hej , du bist ja wieder da!« Lächelnd küsste er sie auf die Wange und zog sie in die Arme.
Linda schmiegte sich an ihn und genoss für einen Moment seine Körperwärme und seine Zuneigung. Ohne nachzudenken, fragte sie: »Nils, liebst du mich eigentlich?«
Er schob sie ein Stück von sich weg und betrachtete sie irritiert. »Was ist das denn für eine Frage? Würden wir etwa sonst heiraten?«
»Sag es«, verlangte sie.
»Was?«
»Sag mir einmal, dass du mich liebst.«
»Selbstverständlich liebe ich dich, Linda.« Er musterte sie mit zusammengezogenen Brauen. »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir?«
Linda zuckte die Achseln. »War ein bisschen schwierig mit meinem Vater«, antwortete sie vage, während sie über das nachdachte, was er gerade zu ihr gesagt hatte. Dafür, dass sie soeben erstmalig eine ausdrückliche Liebeserklärung aus seinem Mund gehört hatte, fühlte die Welt unter ihren Füßen sich erstaunlich solide an. Kein Herzflimmern, keine Schmetterlinge im Bauch.
»Willst du darüber reden?«, fragte er.
Linda schaute ihn verständnislos an und begriff erst einen Sekundenbruchteil später, dass er ihren Vater meinte.
»Später. Ich muss erst mal alles verdauen.«
Er ließ sie los und ging hinter die Küchentheke, wo er den Kühlschrank öffnete und die Vorräte inspizierte. Linda ließ sich auf das Sofa fallen und hoffte, dass er nicht von ihr erwartete, heute noch zu kochen. Sie war definitiv zu erledigt für derlei Aktivitäten. Nils war ein fähiger Anwalt, aber als Koch die reinste Niete. Folglich musste sie sich selbst darum kümmern, es sei denn, sie wollte verhungern oder täglich essen gehen. Nach Ersterem stand ihr nicht der Sinn, und Letzteres gab ihr Budget nicht her. Noch hatte sie in ihrem neuen Job nicht angefangen, und auch danach würde sie nicht gleich auf großem Fuß leben können, denn so üppig war das Salär auch nicht. Während des Studiums hatte sie durch Stadt- und Museumsführungen genug dazuverdient, um einigermaßen über die Runden zu kommen, aber ohne Nils’ gelegentliches Sponsoring bei den Urlauben und den Haushaltungskosten hätte sie sich etwas mehr einschränken müssen. Linda hatte sich revanchiert, indem sie sich um sein leibliches Wohl kümmerte. Wäsche, Küche, Einkaufen, Haushalt — es war ganz einfach eine Selbstverständlichkeit für sie, und sie hatte es auch nie infrage gestellt in den sechs Monaten, die sie nun schon zusammen wohnten. Sogar während des Examens hatte sie sich immer Zeit zum Kochen und Saubermachen genommen. Stirnrunzelnd fragte sie sich, ob es in Zukunft anders werden würde. Wenn sie beide einen Fulltime-Job hatten — wer würde sich dann um den Kram zu Hause kümmern? Linda hatte die schwache Befürchtung, dass Nils sich vielleicht allzu sehr an das bisherige Arrangement gewöhnt haben könnte.
Nun, das würde die Zeit erweisen. Entschlossen verdrängte Linda alle Gedanken an Alltagsprobleme. Lächelnd blickte sie zu Nils auf.
»Hör mal, können wir nicht einfach morgen schon heiraten? Und dann drei Monate auf Hochzeitsreise gehen!« Verträumt fügte sie hinzu: »Malediven oder Bali...«
Nils fasste es so auf, wie sie es gemeint hatte, als nette Spinnerei. Er lachte. »Wie wär’s mit Neuseeland? Weiter weg geht’s wirklich nicht!«
»Mal im Ernst«, drängte sie. »Ich habe Lust, einfach abzuhauen!«
»Lust hätte ich auch. Aber was würden wir unseren Gästen sagen?« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Und dem Pfarrer?«
Eine Spur von Argwohn keimte in ihr auf. »Welcher Pfarrer? Den wollten wir doch gemeinsam aussuchen!«
Nils grinste stolz. »Ist schon geschehen. Ein Mandant von mir ist mit dem Bischof von Stockholm befreundet. Er wird uns trauen.«
»Aber ich wollte doch, dass Pfarrer Hansson uns traut! Er hat mich auch schon getauft...«
Nils warf die Kühlschranktür zu und drehte sich zu ihr um. »Nicht böse sein. Sieh mal, so ein Bischof macht doch was her! Freu dich doch einfach, Linda!«
Sie konnte es nicht ausstehen, wenn er mit ihr sprach wie mit einem
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