Sehnsuchtsland
vergangenen Jahrhunderten. Die meisten Stücke kannte sie natürlich schon von den Führungen her und konnte auch beinahe zu jedem einzelnen etwas erzählen. Doch die historischen Details der hier dokumentierten Seefahrtskultur waren für ihre Arbeit momentan weniger interessant als beispielsweise solche Aspekte wie die richtige Luftfeuchtigkeit, effizienter Schutz vor Parasitenbefall, penible Überwachung der Reinigungsintervalle. Ganz zu schweigen von der Auswahl und Kontrolle der Restauratoren, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Ankauf neuer Exponate, Akquisition von Fördergeldern. Als Assistentin der Museumsleitung musste sie sich mit Themenkreisen befassen, die um einiges komplexer waren, als sie erwartet hatte. Was allerdings keineswegs hieß, dass es ihr keinen Spaß machte, ganz im Gegenteil. Die Arbeit war anstrengend, aber auch interessant, und wenn sie abends nach Hause kam, war sie zwar müde, aber auch zufrieden mit dem, was sie geleistet hatte.
Sie blickte von einer Zahlenkolonne in ihren Unterlagen auf und fuhr erschrocken zusammen, als sie hinter dem Schaukasten einer prächtigen Brigg jemanden auftauchen sah, den sie hier am allerwenigsten erwartet hatte. Sein Gesicht wirkte durch die Glasscheibe leicht verschwommen, doch sie hätte ihn jederzeit unter einer Million Männern wiedererkannt.
»Henrik«, sagte sie atemlos. »Du hast mich erschreckt! Was machst du hier?«
Er kam hinter dem Kasten hervor und blieb vor ihr stehen. Sein Gesicht war ernst. »Du musst nach Hause kommen, Linda.«
»Wieso? Was ist passiert?«
»Dein Vater will die Werft verkaufen.«
Linda schaute ihn schockiert an. »Was? Aber das kann er doch nicht machen!«
»Er ist kein junger Mann mehr. Und er ist nicht gesund.«
»Und wieso kommst du damit zu mir? Ihr habt doch Gunilla!«
»Gunilla... steht nicht zur Verfügung.«
Linda blickte bei dieser merkwürdigen Äußerung überrascht auf. Mit seinem nächsten Satz wurde Henrik auch nicht gerade deutlicher. »Sie verlässt Schweden.«
Linda begriff nicht, was das Ganze sollte. Anscheinend hatte sie etwas sehr Wichtiges verpasst, und Henrik schien ziemliche Schwierigkeiten zu haben, damit herauszurücken.
»Was soll das heißen?«, fragte sie leicht gereizt. »Ich verstehe dich nicht!«
Henrik schaute zur Seite. »Wir sind dabei, uns zu trennen. Sie hat einen anderen Mann kennen gelernt. Mit dem wird sie in London leben.«
Linda war völlig perplex. Sie schluckte, dann atmete sie ruckartig aus.
»Das ist nicht wahr!«, stieß sie hervor.
Als Henrik nichts erwiderte, fuhr sie erregt fort: »Aber das kann doch nicht sein! Wieso tut sie so etwas? Sie hat doch alles, was sie sich wünschen kann! Die Werft, Papa...« Sie stockte. »Und dich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass sie das alles wegwirft.«
Eine Schar Touristen hatte den Ausstellungsraum betreten. Henrik drehte sich zu Linda um. »Lass uns rausgehen, irgendwo spazieren.«
Natürlich konnte sie nicht einfach während der Arbeit verschwinden, also verabredete sie sich mit ihm für die Zeit ihrer Mittagspause.
Sie trafen sich um eins vor dem Slottskogen , um ein Stück zu laufen.
Schweigend gingen sie durch den Park. Die meisten Bäume waren noch grün, doch hier und da begannen sich die Blätter bereits herbstlich zu verfärben.
»Wie kann sie nur so dumm sein«, begann Linda nach einigen Augenblicken die Unterhaltung. »Und das alles wegen einer Verliebtheit!« Sie wandte sich zu Henrik um. »Mehr kann es doch nicht sein, oder?«
Er schien nicht gewillt zu sein, darauf einzugehen, denn anstelle einer Antwort schaute er stur geradeaus auf den Weg.
»In Wahrheit liebt ihr euch doch, oder?« Linda merkte, dass sich ein leicht hysterischer Unterton in ihre Stimme einschlich, und trotz des Durcheinanders in ihren Gedanken zwang sie sich, ruhiger zu sprechen. »Es kann einfach nicht sein, dass ihr euch so getäuscht habt. Als ihr geheiratet habt, wart ihr das glücklichste Paar der Welt. Nichts schien euch jemals trennen zu können!«
»Es sieht so aus, als hätten wir uns geirrt«, sagte Henrik sachlich.
Aus unerfindlichen Gründen brachte diese Bemerkung sie in Wut. »Man irrt sich doch nicht, wenn es um Liebe geht! Das gibt es doch gar nicht! So blöd ist kein Mensch!«
»Ich wusste gar nicht, dass du so romantisch veranlagt bist.« Ein spöttisches kleines Funkeln glomm in seinen Bernsteinaugen auf. »Wie schön, dass du so vehement an die große Liebe glaubst!«
»Ich weiß nur
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