Sehnsuchtsland
eins«, sagte sie leise. »Wenn ich das Glück hätte, mit dem Mann leben zu dürfen, den ich liebe... wirklich und wahrhaftig liebe... Ich würde um ihn kämpfen.« Entschlossen hob sie ihr Kinn. »Niemals würde ich dieses Glück einfach so aufgeben!«
»Komm nach Hause, Linda.« Es klang drängend, und als er ohne Vorwarnung im nächsten Moment ihre Hand nahm, durchfuhr es sie wie bei einem Stromschlag. Hastig machte sie sich los. »Ich bin hier zu Hause. In Göteborg. Bei Nils. Alles andere wäre falsch!«
»Aber du gehörst nicht hierher! Komm zurück! In die Werft, zu deinem Vater!«
Sie schaute ihm in die Augen, stolz und gleichzeitig innerlich so zerrissen, dass sie fürchtete, es keine Sekunde länger in seiner Nähe auszuhalten. »Ich muss gehen, Nils wartet.« Sie nannte den Namen ihres Verlobten in wohlberechneter Grausamkeit, wollte sehen, wie Henrik zusammenzuckte. Doch als er genau das tat, fühlte sie sich keinen Deut besser. Erschöpft senkte sie den Kopf. Bloß weg von ihm, war ihr einziger Gedanke. Nur schnell verschwinden, damit er sie nicht länger ansehen oder sie berühren konnte.
»Mach’s gut, Henrik. Es tut mir Leid, aber es geht nicht anders.« Sie zwirbelte das fransige Ende ihres Schals zwischen den Fingern, dann trat sie aus einem unkontrollierbaren Impuls heraus auf ihn zu und küsste ihn rasch auf den Mund. Er hob die Hände, um sie festzuhalten, doch sie wich eilig zurück, zuerst nur einen Schritt, dann einen zweiten. Und schließlich mehrere Meter, damit er sie nicht mehr erreichen konnte.
»Linda, warte!«
Sie schüttelte den Kopf und verfluchte sich, weil sie kaum noch etwas sehen konnte vor lauter Tränen. Auf keinen Fall würde sie sich die Blöße geben, vor ihm zu heulen. »Es ist leider alles viel zu spät«, flüsterte sie. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte davon.
*
Auf der Rückfahrt brach Henrik alle Geschwindigkeitsbegrenzungen. Der hochmotorisierte Mercedesjeep reagierte auf die leiseste Berührung des Gaspedals wie ein Rennwagen und blieb auch bei hohem Tempo in allen Kurven zuverlässig auf der Fahrbahn, obwohl Henrik den Wagen bis an die Grenze seines eigenen Könnens fuhr.
Er war nicht gerade der geborene Raser, normalerweise bewegte er sich im Straßenverkehr sehr besonnen. Doch heute war nichts mehr normal. Alles war anders geworden. Hatte er schon vorher geahnt, dass sich zwischen ihm und Linda etwas Besonderes anbahnte, so gab es nach dieser erneuten Begegnung keinen Zweifel mehr daran, was tatsächlich passiert war: Er hatte sich bis über beide Ohren in seine eigene Schwägerin verknallt. Allein sie in diesem Museum herumlaufen zu sehen, in ihrem weit ausgeschnittenen weißen Pulli und dem Rock, der eine Handbreit über ihren Knien endete... Er hatte gewusst, dass sie gut gebaut war, aber dass sich unter den formlosen T-Shirts und langen Hosen, in denen er sie bisher immer gesehen hatte, derartige Kurven verbargen...
Henrik biss die Zähne zusammen. Lass es sein, befahl er sich. Schlag sie dir aus dem Kopf!
Sie war die kleine Schwester seiner Frau, und sie war nicht nur zwölf Jahre jünger als er, sondern auch verlobt. In ein paar Wochen würde sie heiraten. Der Termin war bereits festgelegt, und sie war sogar schon dabei, die Einladungen zu verteilen.
Trotz alledem war ihm natürlich nicht entgangen, dass sie ähnlich auf ihn reagierte wie er selbst auf sie. Henrik war erfahren genug, um alle Anzeichen sexueller und emotionaler Erregung zu erkennen, wenn sie bei einer Frau auftraten. Und Linda hatte genau diese Anzeichen gezeigt, so viel stand fest.
Umgekehrt hätte ihm vielleicht eher auffallen sollen, dass seine Frau nicht mehr sonderlich begeistert bei der Sache war, wenn es, was in den letzten Monaten selten genug der Fall gewesen war, zwischen ihnen zu körperlichen Intimitäten gekommen war.
Henrik überlegte in selbstquälerischem Sarkasmus, ob dieser John Borman es besser machte. Er hatte den Kerl einmal flüchtig auf irgendeiner geschäftlichen Veranstaltung in der Werft kennen gelernt, rein äußerlich machte der Bursche weiß Gott nicht viel her. Er war bestenfalls mittelgroß, trug Brille und hatte ziemlich große Geheimratsecken. Vermutlich war es der Erfolg, von dem Gunilla sich so unwiderstehlich angezogen fühlte. Borman war einer der gefragtesten Handelsagenten in ganz Europa, und bei seinen Geschäften verdiente er eine Menge Geld. Sicherlich würde er ihr genau das Leben bieten können, nach dem sie strebte.
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