Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sehnsuchtsland

Sehnsuchtsland

Titel: Sehnsuchtsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inga Lindström
Vom Netzwerk:
davon.
    Im Vorbeilaufen sah sie den Mann, der ihr vorhin am See und dann eben wieder im Hof begegnet war. Anscheinend ein Urlauber, der heute mit seiner Familie hier angekommen war. Sein Starren und Stammeln hätten sie nervös machen sollen, aber auf unerklärliche Art hatte es ihr gefallen. Mehr noch, sie hatte in sich eine sonderbare Unruhe unter seinen Blicken gespürt, ein Gefühl, als sei sie plötzlich lebendiger als vorher.
    Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Blindlings rannte sie weiter, bis sie den See erreicht hatte. Auf dem äußeren Ende des Stegs ließ sie sich nieder und starrte hinaus aufs Wasser. Das eigentümliche Zwielicht der nordischen Sommernacht begann schleichend herabzusinken und tauchte alle Konturen in ein feines, silbriges Grau.
    Ganz in der Nähe schlug eine Nachtigall. Ihr Gesang tönte klagend aus dem Wald und erinnerte Lena an eine andere Nacht zu einer anderen Zeit, als das Lied der Nachtigall für sie noch romantisch und schön gewesen war.
    Sie schwankte vor und zurück, beide Knie mit den Händen umklammernd, das Gesicht nass vor Tränen.
    Auch auf dem winzigen Friedhof in der Nähe war die Nachtigall zu hören. Dämmerung lag über den Gräbern, und Elinor Frödin sagte sich wie immer, dass dies die beste Zeit war, um der Toten zu gedenken. Die Blumen waren dunkel und der Himmel fahl, es gab keinen Glanz, der ein falsches Licht auf ihre Trauer hätte werfen können. Sie blieb stehen, als sie den Ort erreicht hatte, an den sie bis an ihr Lebensende Tag für Tag würde zurückkehren müssen, ohne die Aussicht, je zur Ruhe zu kommen. Schwere Rosenstöcke standen rund um das Grab, auf dem ein glatter grauer Marmorstein bezeugte, dass die Vergangenheit nie endete.

    *

    Ingrid hatte eigene Vorstellungen davon, wie Lena ihren Urlaub am sinnvollsten verbringen konnte. In ihren Augen sprach nichts dagegen, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, was in diesem Fall einen Abstecher in den Obstgarten beinhaltete. Lena hatte sich gefügt — nicht weil sie es musste, sondern weil sie es wollte. Die Apfelplantage von Gut Lagerberg war nicht sonderlich groß, aber die Bäume trugen in diesem Jahr ungewöhnlich gut, vor allem diejenigen mit der früh reifenden Sorte, die bereits im Sommer geerntet wurde.
    Nachdem sie fast zwei Stunden Äpfel gepflückt hatten, spürte Lena ihren Rücken und ihre Arme kaum noch, aber um nichts in der Welt hätte sie das zugegeben. Sie genoss es viel zu sehr, einfach nur hier zu sein, zusammen mit ihrer Schwester. Erinnerungen hatten sich ihrer bemächtigt, so bitter-süß und traumgleich, dass sie ungeachtet ihrer Rückenschmerzen in einen tranceartigen Zustand hinüberglitt , in eine Welt, wo es nichts gab außer dem Duft der reifen Sommeräpfel und der Sonne auf ihrer Haut.
    Lena stieg von der Leiter und stellte den vollen Korb ab. »Meine Güte, ihr ertrinkt ja hier in Äpfeln. War das früher eigentlich auch so?«
    Ingrid lugte von der Leiter im Nachbarbaum zu ihr herab. »Erinnerst du dich nicht, wie wir mit Stefan um die Wette gepflückt haben? Wir hatten ja hier schon eine Menge Äpfel, aber drüben auf Marielund... Ich hatte immer das Gefühl, die haben zehnmal mehr als wir.«
    Lena wandte sich rasch ab und bückte sich, allem Anschein nach voll konzentriert auf das Unterfangen, eine Schütte mit Äpfeln in den großen Korb am Boden auszuleeren.
    Ingrid beobachtete ihre Schwester. »Du weißt, wie sehr Papa sich freut, dass du hier bist, oder?«
    Lena hielt verbissen den Kopf gesenkt.
    »Er hat dich so vermisst die ganze Zeit. Dass seine Lieblingstochter ihn aus ihrem Leben ausschließt... Er kann das einfach nicht verstehen.«
    Lena gab es auf, länger die Geschäftige zu spielen. Zögernd richtete sie sich auf. »Ich habe ihn auch immer vermisst. Euch alle. Aber es ging einfach nicht. Ich konnte nicht hierher kommen.«
    »Aber jetzt bist du da.«
    Lena wurde einer Antwort enthoben, denn soeben kam ihr Neffe aufs Feld gerannt. Er trug eine Apfeltorte vor sich her, die fast so groß war wie er selbst und bedenklich in seinen Händen hin und her rutschte.
    »Wir wollen Kuchen essen!«, schrie er vergnügt.
    Amüsiert überlegte Lena, dass daraus vermutlich nichts werden würde. Lasse legte ein derartiges Tempo vor, dass der Kuchen wahrscheinlich in ein paar Sekunden nur noch Matsch war. Was wirklich schade wäre, denn sie und Ingrid hatten den halben Morgen in der Küche gestanden und ihre Zeit damit verbracht, den Lieblingskuchen der

Weitere Kostenlose Bücher