Sehnsuchtsland
während sie sich bereits wieder in Bewegung setzte und ihre Schritte zu dem Taxi lenkte, das sie vorhin bestellt hatte und das jetzt ein paar Meter weiter auf sie wartete.
Während sie einstieg, überlegte sie, ob sie den Mann schon mal gesehen hatte. Er war ihr so eigentümlich vertraut vorgekommen. Normalerweise hatte sie ein gutes Gedächtnis für Namen und Gesichter, und sie entschied, dass er ein Fremder war. Das, was sie vorhin gehabt hatte, war einfach ein klassisches Déjà-vu-Erlebnis. Ein Zeichen von zu viel Stress. Höchste Zeit, dass sie endlich wegkam von Stockholm. Als das Taxi anfuhr, drehte sie den Kopf und schaute ein letztes Mal die Fassade hoch. Ihre Blicke irrten suchend nach oben, bis sie das Fenster ausgemacht hatte, an dem das Rollo herabgelassen war.
*
Niclas hatte vollkommen vergessen, dass er den Drachen ins Auto legen wollte. Er stand mitten auf dem Gehsteig und starrte dem Taxi nach, bis es um die nächste Ecke verschwunden war, zusammen mit der Frau, die ihn vorhin angerempelt hatte.
Dann endlich warf er den Drachen auf den Rücksitz, immer noch von dieser merkwürdigen Spannung erfüllt. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal beim bloßen Anblick einer Frau derart beeindruckt gewesen war.
Sicher, sie war überdurchschnittlich hübsch, aber das waren ein Dutzend andere Frauen, die er kannte, ebenfalls. Sie hatte einen außergewöhnlich zarten Teint gehabt, wie feines Chinaporzellan, und ihre Augen waren von einem so silberhellen Blau, wie er es noch nie gesehen hatte. Aber Pfirsichhaut und hübsche Augen allein waren keine Erklärung dafür, warum ihr Gesicht ihn innerhalb dieses winzigen Sekundenbruchteils so in Bann geschlagen hatte. Vielleicht war es dieser besondere Ausdruck in ihren Augen gewesen. Eine Spur von Sehnsucht hatte darin gestanden, und noch etwas anderes, das Niclas sofort erkannt hatte. Ein Gefühl, das ihm selbst so vertraut war wie kaum ein anderes. Es war Trauer.
*
Erik war dabei, die zusammengerollten Taue zu prüfen, als Hanna den Liegeplatz der Miranda erreichte.
»Erik!« Mit einem entschuldigenden Lächeln kletterte sie an Deck und stellte ihre Tasche ab.
»Na endlich.«
»Jetzt kann’s losgehen.« Sie kam auf ihn zu und küsste ihn rasch auf den Mund.
»Herzlich willkommen an Bord. Und...« Er machte eine kurze Pause, während der er einen Gegenstand hinter seinem Rücken hervorzog. »...in unserem neuen Leben.«
Hanna schaute auf die Blumen. Es war ein hübscher Strauß. Vermutlich hätte sie jetzt sagen sollen, wie sehr er ihr gefiel und dass sie sich darüber freute. Doch ihr wollte nichts Rechtes einfallen. Sie blickte ihn an. Er schaute so erwartungsvoll drein, dass es ihr einen Stich gab.
»Wir versuchen es«, sagte sie. »Jetzt lass uns endlich fahren.«
Erik löste bereits das Haltetau vom Steg, und sie legten ab. Anschließend befestigte er das Fall, und gemeinsam hissten sie das Hauptsegel.
Sie arbeiteten schweigend und in geübter Routine, während das Boot langsam aus dem Yachthafen glitt und die Uferpromenade des Strandvägen mit ihren prachtvollen, von Zuckerbäckertürmchen gekrönten Fassaden hinter ihnen zurückblieb.
Ein Regenbogen spannte sich über der Bucht und schien die pittoreske Hafeneinfahrt von Stockholm mit ihren Prachtbauten und geschwungenen Brücken in eine Märchenlandschaft zu verwandeln. Hanna sagte sich, dass dies ein Symbol der Hoffnung sei. Es war im buchstäblichen Sinne ein Aufbruch zu neuen Ufern. Sie konnte alles, was sie belastete, endlich hinter sich lassen.
Erik stand am Steuer und hielt die Miranda auf Kurs. Sie segelten an Ausflugsdampfern, größeren Ozeanschiffen und Lastkähnen vorbei, hinaus in die offene Schärenlandschaft.
Hanna trat neben ihren Mann und beschattete die Augen mit der Hand, während sie die Silhouette der Stadt betrachtete. »Weißt du was? Ich bin mir nicht sicher, ob ich abgeschlossen habe!«
»Was ist das denn?« Erik wirkte leicht irritiert. »Willst du jetzt schon umdrehen? Oder hast du Zweifel, ob es richtig ist?«
»Natürlich ist es richtig«, versicherte Hanna hastig. »Es ist das Beste, was wir tun können.« Es klang in ihren eigenen Ohren so, als müsse sie nicht nur ihn, sondern auch sich selbst davon überzeugen.
Eriks Hände glitten über das Ruder. »Wir können auch gar nicht zurück, selbst wenn wir es wollten. Die Wohnung ist vermietet, wir haben die tollste Abschiedsparty aller Zeiten gegeben. Die Vergangenheit liegt hinter uns,
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