Sehnsuchtsland
Sie das letzte Gehalt hinschicken. Ich muss jetzt weg. Mein Bus fährt in zehn Minuten. Wiedersehen, Herr Doktor.«
Niclas fand, dass er sich selbst und Pelle einen letzten Versuch schuldig sei. »Sie können mich doch nicht einfach so im Stich lassen!«
Lina hatte dazu offenbar ihre eigene Ansicht. Sie marschierte kommentarlos ins Freie.
»Einen Moment noch!« Er folgte ihr, inzwischen mehr als verärgert. »Lina, wo ist Pelle?«
Sie blieb stehen, die Tasche wie einen Schutzschild zwischen sich und ihrem ehemaligen Arbeitgeber. »Sehen Sie, das ist auch so eine Sache.« Griesgrämig starrte sie ihn an. »Immer soll ich hinter ihm her sein. Ich habe keine Ahnung, wo der Junge schon wieder ist. Vielleicht in der Werft bei Jan oder beim Fußball oder beim Angeln.« Ihre ganze Körperhaltung drückte rechtschaffene Empörung aus. »Ich weiß es nicht. Und ich bin ehrlich gesagt auch froh, dass ich mir keine Gedanken mehr darüber machen muss!«
Mit diesen Worten stapfte sie davon.
Niclas ließ erschöpft und entnervt die Schultern hängen. Er nahm den Hörer vom Wandtelefon und rief in Jans Bootswerkstatt an. Pelle trieb sich gerne dort herum und schaute dem Alten oft bei der Arbeit zu.
Jan ging zwar ans Telefon, aber er hatte keine Ahnung, wo Pelle sich aufhielt.
»Heute war er noch nicht hier«, sagte er mit seiner heiseren und immer ein wenig gedehnt klingenden Stimme. »Mach dir keine Sorgen, Niclas, er ist ein großer Junge. Dem passiert schon nichts. Wenn er hier auftaucht, schicke ich ihn sofort nach Hause. Bis dann!«
Niclas legte frustriert auf und fragte sich, wie ein Tag, der so verheißungsvoll begonnen hatte, sich binnen kürzester Zeit in eine einzige Katastrophe verwandeln konnte.
*
Jan hängte den Hörer ein und fuhr sich über den Rücken. Die Schmerzen waren seit gestern wieder schlimmer geworden, sie strahlten bis in die Schultern aus und schienen auch auf die Arme überzugreifen. Wenn das so weiterging, würde er irgendetwas einnehmen müssen, und davor scheute er zurück wie der Teufel vorm Weihwasser. Er hasste alle Arten von Tabletten, und noch mehr hasste er es, zum Arzt zu gehen. Nicht, dass er etwas gegen Niclas Söderlind gehabt hätte, im Gegenteil. Der Junge war in seinen Augen der beste Arzt, den die Gegend hier je gesehen hatte, und es war ein einziger Jammer, dass er nicht mehr praktizierte. Aber der Arzt, der Jan Olsson in seine Fänge kriegen würde, müsste erst geboren werden. Konnte gut sein, dass sie ihm sogar eine Spritze verpassen würden, wenn er von seinen Rückenschmerzen erzählte. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatte Lotta einmal eine Ischiasattacke gehabt, und Jan erinnerte sich nur allzu gut daran, dass sie damals an mehreren Tagen hintereinander beim Arzt gewesen war — wo sie jedes Mal eine Spritze bekommen hatte. Jan unterdrückte einen Schauer des Widerwillens, und als er über das Wasser das Taxiboot seiner Tochter auf den Steg zutuckern sah, betrachtete er das als willkommene Ablenkung.
Sivs Boot legte an. Sie warf ihm das Tau zu und sprang auf den Steg, knabenhaft hübsch in ihrer Jeanskluft. » Hej , Papa! Ich glaube, ich brauche Öl! Kannst du mal schnell nachsehen?«
» Hej !« Er bückte sich und befestigte das Tau am Steg. »Gut, dass du mich hast. Sonst würdest du mit deinen Taxibooten schon längst auf dem Trockenen liegen!«
»Du hast Recht. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen.« Sie warf ihren langen Zopf zurück und grinste ihn an. »Und wie geht’s dir sonst so? Hast du ein Geschenk für Mama?«
»Es geht mir gut.« Ablehnend fügte er hinzu: »Wozu brauche ich ein Geschenk? Ich bin nicht eingeladen.«
Siv wirkte verärgert. »Das gibt’s doch nicht! Ich habe auf sie eingeredet wie auf ein lahmes Pferd!«
»Ach«, versetzte Jan trocken.
»Sie hat gesagt, sie überlegt es sich dieses Jahr wirklich!«
»Hat sie ja dann wohl auch. Nur eben nicht zu meinen Gunsten.« Gegen seinen Willen musste Jan ein wenig schmunzeln. Ihm war klar, dass dieses Hin und Her zwischen ihm und Lotta für Dritte eine ganz eigene Komik entfalten musste. Manchmal hatte er ja sogar selbst das Gefühl, darüber lachen zu können. So wie vorhin. Aber eben nur manchmal. Seine Erheiterung verschwand denn auch binnen Sekunden wieder und machte der üblichen Besorgnis Platz. Lotta hatte Geburtstag, und er wollte verdammt noch mal hingehen. Nur, dass ihm bis jetzt kein plausibler Grund eingefallen war, mit dem er sein Auftauchen rechtfertigen konnte.
»Soll ich dir mal
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