Sehnsuchtsland
Frau, die ihn beobachtete, stand nicht allzu weit entfernt an einer Gebäudeecke. Ihr war kalt, obwohl sie trotz der frühen Tageszeit schon fast zwanzig Grad hatten. Erik hatte tatsächlich ernst gemacht. Er wollte wirklich weg. Nicht, dass er es ihr nicht gesagt hätte — sie hatte es nur nicht geglaubt. Fast jeden Tag der letzten Woche war sie hier gewesen und hatte ihn beobachtet. Hatte zugeschaut, wie er das Boot klargemacht hatte.
Jetzt stand er an Bord, das blonde Haar windzerzaust, das Gesicht zu einem Lachen verzogen. Er lachte, während sie selbst am liebsten tot gewesen wäre!
Als sie sah, dass er sein Handy am Ohr hatte, wusste sie, warum er so froh war. Er telefonierte mit seiner Frau.
*
Hanna beugte sich über ihren PC und bereitete die aktuelle Datei zum Versenden vor, als ihr Handy klingelte. Während sie die Verbindungstaste drückte, schaute sie auf die Uhr und stellte schuldbewusst fest, dass sie völlig die Zeit vergessen hatte.
»Hanna, wo bleibst du?«, fragte Erik ungeduldig. »Ich habe eben die letzten Seekarten abgeholt, alles an Bord ist klar. Wir können starten!«
»Ich bin praktisch schon unterwegs. Ich muss nur schnell den letzten Entwurf abschicken, dann bin ich auch schon hier weg.« Hanna klickte auf senden, und die Zeichnungen für eine Hollywoodschaukel verschwanden im virtuellen Äther. Anschließend leuchtete ihr Firmenlogo auf dem Display, groß und bunt, so wie sie es mochte. Ein H, ein und ein D, alles hübsch ineinander verschlungen. Hannaschaute es einen Moment lang versonnen an, bevor sie den PC ausschaltete. Es war vorläufig das letzte Mal, dass sie es sah. Hanna Beilmann Design würde für eine ganze Weile aufhören zu existieren. Sie ging ein letztes Mal durch die Wohnung, die von allen persönlichen Sachen befreit war. Das meiste hatten sie und Erik eingelagert. Einen Teil der Möbel hatten sie hier gelassen, die neuen Mieter hatten angeboten, sie zu übernehmen. Hanna hatte sofort zugestimmt. Sie wollte ihr neues Leben ohne jeden Ballast beginnen.
Ballast... Vor der Tür des letzten Zimmers zögerte sie unmerklich, doch dann drückte sie die Klinke herab und schaute hinein. Betreten wollte sie es nicht. Wozu auch. Hier drin war es seit Monaten unverändert, und so würde es auch bleiben. Die neuen Mieter erwarteten in zwei Monaten ihr erstes Kind, sie waren dankbar für die funkelnagelneue Babyausstattung, die Hanna ihnen zu einem Spottpreis überlassen hatte.
Sonne fiel ins Zimmer und malte helle Flecken auf den großen schwarzen Teddybär, der neben dem Gitterbettchen auf dem Boden saß. Mit einem Mal fand Hanna, dass es viel zu hell hier drin war. Eilig und mit abgewandtem Gesicht ging sie zum Fenster und ließ das Rollo herunter. Dann verließ sie den Raum, bevor die Panik überhand nehmen konnte. In ihrem Hals steckte ein schmerzhafter Kloß, aber ihre Augen blieben trocken. Heftig zog sie die Tür hinter sich ins Schloss, als könne sie so die Gespenster ihrer Vergangenheit wegsperren. Doch als sie kurz darauf mit ihrer Reisetasche auf die Straße trat, merkte sie, dass das nicht so einfach war. Vor dem Haus stand ein Kinderwagen. Eine Frau aus der entfernteren Nachbarschaft hatte vor ein paar Monaten entbunden. Hannas Kind wäre jetzt im selben Alter wie das Baby, das gerade von einer Bekannten der Frau bestaunt wurde.
Hanna kannte die Frau nur vom Sehen und hatte auch nie mit ihr gesprochen. Ihr war damals nur aufgefallen, dass sie zur selben Zeit schwanger waren, und später hatte sie mitbekommen, dass das Baby da war.
Hanna vermied es, näher hinzuschauen. Hastig warf sie ihre Tasche über die Schulter und ging dann eilig an dem Kinderwagen vorbei. Dabei schaute sie an der Fassade des Hauses hoch und vergewisserte sich, dass sie alle Fenster geschlossen hatte.
Einen Moment später verfluchte sie sich stumm, denn sie rempelte in vollem Lauf einen Passanten an, der gerade in seinen Wagen steigen wollte.
Erschrocken wandte sie sich ihm zu. »Tut mir Leid!«
»Macht doch nichts.«
Der Mann lächelte sie an, und Hanna blieb unwillkürlich stehen, um ihn anschauen zu können. Er hatte ein markantes Gesicht, das im Moment zu einem jungenhaften Grinsen verzogen war. Sein dunkles Haar lockte sich in einem ungebärdigen Wirbel über der Stirn. Neben dem rechten Mundwinkel zeigte sich ein mutwilliges kleines Grübchen. Und in der Rechten trug er einen zusammengerollten bunten Winddrachen.
All das nahm Hanna im Bruchteil einer Sekunde in sich auf,
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