Sehnsuchtsland
und konnte seine Blicke nicht von dem Bild wenden, das sich ihm bot.
Hanna und sein Sohn rannten ausgelassen hin und her und versuchten, dem Drachen auf diese Weise mehr Drive zu verpassen. Ihre vergnügten Schreie schallten über die Wiese und brachten ihm zu Bewusstsein, wie lange hier draußen nicht gelacht worden war. Wann hatte er überhaupt das letzte Mal seinen Sohn laut lachen hören? Hanna sah verführerisch aus mit ihren wehenden kurzen Locken und ihrer biegsamen Gestalt. Ihr weit ausgeschnittenes Top ließ den Ansatz ihrer vollen Brüste sehen, wenn sie sich vorbeugte, ein Anblick, der Niclas auf eine Art in Bann zog, wie er es ziemlich lange nicht gespürt hatte.
Als hätte sie gemerkt, wie eingehend er sie beobachtete, kam sie auf ihn zugerannt und kletterte den Felsen hoch, um sich neben ihn zu setzen. Atemlos und erhitzt schaute sie ihn an und lachte mit blitzenden Zähnen. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, und auf ihrer Oberlippe standen kaum sichtbare Schweißperlen. Unter der linken Augenbraue hatte sie einen kleinen Leberfleck, eine sympathische Unvollkommenheit, die ihn auf magische Weise anzog.
Niclas wandte hastig seine Blicke ab, weil er fürchtete, sie sonst allzu aufdringlich anzustarren. Dennoch war er sich mit jeder Faser seines Körpers ihrer Anwesenheit bewusst. Seine Hände zuckten in dem Verlangen, sie zu berühren. Sie auf irgendeine Weise anzufassen, und wenn es nur seine Hand auf ihrer Schulter wäre.
Hanna deutete auf Pelle. »Er macht das gut!«
Niclas lachte. »Kein Wunder, er hatte ja auch kompetente Hilfe!«
Er schaute sie von der Seite an. »Aber es gäbe da noch mehr zu tun. Beispielsweise eine elektrische Eisenbahn, die ihren Geist aufgegeben hat.«
Hanna kicherte. »Wenn ich das nächste Mal da bin, kann ich’s mir ja mal angucken.«
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als sie auch schon begriff, dass es vielleicht gar kein nächstes Mal geben würde. Verlegenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus.
»Vor oder nach Neuseeland?«, fragte Niclas leise.
»Das Boot ist sicher morgen fertig«, entgegnete sie ebenso leise.
Ihre Blicke verhakten sich ineinander. Niclas hielt die Luft an, als er den winzigen Puls an ihrer Kehle flattern sah. Er hielt es keine Sekunde länger aus. Ruckartig stemmte er sich hoch und sprang von dem Felsen ins Gras. Hanna folgte ihm etwas langsamer, und unwillkürlich streckte er beide Hände aus, um ihr zu helfen. Sie trat auf einen losen Stein und rutschte aus, und im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. Er hielt sie an seine Brust gedrückt und spürte zum ersten Mal ihren Körper, roch den Duft ihrer Haut, fühlte ihre hastigen Atemzüge dicht an seinem Hals und die seidige Konsistenz ihres Haars an seiner Wange. Er merkte, wie sie erschauerte, und um ein Haar hätte er seinen Mund auf die zarte Stelle gepresst, wo ihr Hals in die Schulter überging.
Stattdessen schaute er sie nur an, fragend und verstört. Es war, als hätte die Welt in genau diesem Moment aufgehört, sich zu drehen, um sich dann plötzlich und mit ungehinderter Wucht in eine völlig neue Richtung weiterzubewegen.
»Warum willst du nach Neuseeland?«, fragte er mit rauer Stimme.
In ihren Augen stand Verzweiflung, und ihre Lippen bewegten sich, als suche sie nach Worten. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, während sie sich abwandte und rasch sagte: »Ich muss los, Erik wartet.«
Sie löste sich von ihm und eilte hinüber zu Pelle, um ihm beim Zusammenrollen des Drachens zu helfen.
Anschließend gingen sie alle drei gemeinsam zurück zum Haus.
*
Hanna hatte geglaubt, dass das Chaos in ihrem Kopf nicht mehr zu steigern wäre, doch sie hatte sich getäuscht. Als sie Siv auf der Terrasse sitzen sah, fühlte sie sich schlagartig noch desolater als vorher. Um ihre Gemütsverfassung war es ein paar Augenblicke später dann vollends geschehen, als Siv aufstand und einen Küchenprospekt schwenkte. » Hej , Niclas! Ich habe uns ein paar Möbelkataloge bestellt! Guck mal, da sind echt tolle Küchen drin! Warte mal!« Sie fing an, vor seiner Nase die Seiten umzublättern. »Da! Die hier müsste dir gefallen!«
»Ah ja«, meinte Niclas geistesabwesend. »Gibt’s noch Kaffee?«
»Klar.« Siv wandte sich Hanna zu. »Möchten Sie auch einen?«
»Nein danke, ich wollte gerade gehen.« Beklommen schaute sie Siv nach, die durch die Terrassentür in die Küche ging. Anscheinend fühlte sie sich ganz zu Hause hier. Sie bestellte Möbelprospekte,
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