Sehnsuchtsland
herum.
Hanna las Verwirrung und Bedauern in seinen Augen. Für die Dauer eines Lidschlags glaubte sie auch, eine Spur von Widerwillen zu erkennen, doch das war natürlich Einbildung.
Sie beugte sich vor, stellte ihre Tasse auf dem Couchtisch ab und erhob sich. »Ich bin müde, ich gehe schlafen.«
»Ja, ich bin auch ziemlich erschossen. Ich muss noch eine Kleinigkeit essen, dann komme ich nach.«
Hanna eilte nach oben aufs Zimmer und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mit einem Mal fühlte sie bei der Aussicht, ein ganzes Jahr auf engstem Raum mit Erik zu verbringen, helle Panik. Verdammt, was war bloß mit ihr passiert?
Sie wusste es, als sie wie von Fäden gezogen zum Telefon ging und den Hörer nahm. Eine Macht, die stärker war als sie selbst, trieb sie dazu, die Nummer der Auskunft zu wählen.
»Guten Abend. Ich hätte gern die Nummer von Doktor Niclas Söderlind —«
*
Pelle hatte sich vor dem Zubettgehen einigermaßen umgänglich gezeigt, zumindest hatte er weder herumgeschrien noch irgendwelche Gegenstände an die Wand geworfen. Fragte sich nur, wie er sich morgen verhalten würde, wenn es ans Packen ging. Niclas war entschlossen, es so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Warum sollte er es länger hinausschieben? Damit tat er sich und vor allem Pelle keinen Gefallen. Je länger der Umzug wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte, desto störrischer würde er sich aufführen. Lieber ein Ende mit Schrecken.
Niclas hatte eine Weile in den Möbelprospekten geblättert und fragte sich, ob Hanna wohl etwas davon mögen würde. Sivs Geschmack kannte er zur Genüge, sie stand auf edelstahlblitzende italienische Küchen, die aussahen wie eine Art futuristisches Chemielabor.
Hanna, das war ihm klar, hatte bei all ihrer Natürlichkeit einen absolut stilsicheren Geschmack. Man merkte es an vielen Kleinigkeiten, an der Art, wie sie ihr Haar trug, am Schnitt ihrer Kleidung, einfach an ihrer ganzen ungekünstelten Eleganz. Vor allem aber daran, dass sie in der Lage war, Schönheit hinter Dingen zu erkennen, die anderen Menschen keinen zweiten Blick wert waren, einfache Dinge wie Steine oder Bäume oder ein schlichtes selbst gemaltes Bild seines Sohnes. Sie mochte sogar seine alte, abgewetzte Küche mit den angeschlagenen Kacheln und den vielen Schrammen im Parkett. Zum Teufel, sie hatte auch ihn selbst gemocht, soweit die Bezeichnung mögen überhaupt passend dafür war. Es hatte derartig zwischen ihnen geknistert, dass man mit den Funken einen Waldbrand hätte entfachen können. Es war sogar Siv aufgefallen. Beim Abräumen des Kaffeegeschirrs hatte sie beiläufig gefragt, ob er diese Hanna Bellmann eigentlich attraktiv fand oder aus welchem anderen Grund er sie ständig so anglotzte?
Niclas hatte eine nichts sagende Bemerkung von sich gegeben und dabei schnellstmöglich das Weite gesucht.
Er klappte den letzten der Kataloge zu und stand auf, um die Spülmaschine auszuräumen. Dabei fiel sein Blick auf den Stuhl, auf dem sie heute gesessen hatte. Ihre Jacke hing noch dort über der Lehne.
Niclas starrte den dunkelblauen Blazer ungläubig an, als würde er sich im nächsten Moment in Luft auflösen, wenn er nicht Acht gab. Er stand auf, nahm die Jacke vorsichtig an sich und war mit einem Mal davon überzeugt, dass das Schicksal ihm einen letzten Trumpf zugedacht hatte. Vielleicht nicht unbedingt den Joker, aber eine gute Karte auf jeden Fall. Und er war wild entschlossen, sie heute noch auszuspielen.
Er vergaß die Spülmaschine und ging nach oben, um sich frisch zu machen.
Als er auf halber Treppe war, klingelte das Telefon. Er hob ab und meldete sich, doch es kam keine Antwort. Er lauschte dem schwachen Rauschen. »Hallo? Ist da jemand? Hallo!«
Nichts. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Niclas legte achselzuckend den Hörer auf.
*
Hanna presste den Hörer noch einen Moment gegen ihre Brust, bevor sie auflegte. Seine Stimme hatte alles wieder aufgewühlt. Ihre Hände zitterten, sie fühlte sich flau. Wenn sie nicht schon gewusst hätte, dass sie irgendwann im Laufe des Tages verrückt geworden sein musste — spätestens jetzt hätte sie es begriffen.
Als sie Erik das Zimmer betreten hörte, blieb sie von ihm abgewandt auf dem Bett sitzen. Es fehlte noch, dass er mitbekam, in welcher Verfassung sie sich befand.
»Du bist ja noch wach.« Er zog den Pulli aus und hängte ihn über einen Sessel.
Hanna stand auf. »Ich kann nicht
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