Sehnsuchtsland
hatte bei ihr im Bett gelegen, als sein Kind gestorben war, und er verfluchte sich selbst und jeden Atemzug, den er seitdem getan hatte. Er hätte auch Elsa verfluchen sollen, weil sie ihn behext hatte mit ihrer Leidenschaft und ihrem kompromisslosen Lebenshunger. Doch das brachte er nicht fertig, weil er sie jenseits aller Vernunft auf eine Weise liebte, die ihm keine andere Wahl ließ, als sie weiterhin zu begehren.
Sie blieb stehen und fuhr zu ihm herum. Ein Windstoß wehte ihren dünnen hellen Rock wie Nebel um ihre Beine. Ihr geschminkter Mund war wie eine rote Wunde in ihrem Gesicht. »Du hattest dich entschieden. Für mich! Du konntest nicht wissen, was passieren würde!«
»Mein Kind ist tot«, sagte er hart. »Meine Frau wäre fast gestorben. Und ich war bei dir.«
Sie spürte, dass es nichts mehr zu sagen gab. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging zu ihrem Wagen. Als sie einstieg, sah sie, dass er bereits hinter den windgepeitschten Bäumen oben am Hang verschwunden war.
Sie nahm das Foto, das sie ans Armaturenbrett geheftet hatte, bevor sie hierher gefahren war. Es war eine Aufnahme, die sie vor einem halben Jahr im Garten hinter ihrem Haus gemacht hatten, mit Selbstauslöser. Sie lachten beide in die Kamera, und als er sie hinterher in die Arme genommen hatte, war sie sicher gewesen, dass er ihr gehörte. Du bist die Frau meines Lebens, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, und danach hatten sie sich vor dem Kamin geliebt, mehrere Stunden lang. Eine Woche später hatte er ihr unter Tränen gestanden, dass seine Frau schwanger war. Er hatte es schon vorher gewusst, die ganze Zeit über, doch er hatte es nicht geschafft, darüber zu sprechen. Doch dann war das Ultimatum abgelaufen, das sie ihm für die Trennung von seiner Frau gesetzt hatte, und es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als ihr reinen Wein einzuschenken. Sie hätte ihn umgebracht, wenn sie ihn nicht wie verrückt geliebt hätte.
Sie hatten versucht, einfach aufzuhören, sich zu treffen. Es hatte ganze zwei Wochen lang geklappt, dann war es weitergegangen, als wäre nichts geschehen. Lass sie erst das Kind kriegen, hatte er gesagt, dann rede ich mit ihr. Wir finden eine Lösung, die uns allen gerecht wird.
Jetzt war das Kind tot, und die Lösung bestand darin, dass es trotzdem vorbei war mit ihnen. Oder genauer: nicht trotzdem, sondern gerade deswegen.
Elsa schaute mit brennenden Augen das Foto an, dann riss sie es in Stücke. Doch der Impuls, die Fetzen auf die Straße zu werfen, verflog so plötzlich, wie er gekommen war. Stattdessen sortierte sie die einzelnen Teile und fügte sie wie ein Puzzle wieder zusammen, bis ihr Gesicht sich auf dem Foto erneut an seines schmiegte. Ihre Hände waren ruhig, als sie den Kopf hob und durch die Windschutzscheibe ihres Wagens auf die Straße starrte. Während sie die Tränen wegblinzelte, fühlte sie, wie Trotz in ihr aufkeimte und sich rasch in Entschlossenheit verwandelte. Noch war Erik nicht weg.
*
Hanna beugte sich über die Tasche und legte die letzten Sachen hinein, als ihr Handy piepte. Sie musste nicht auf das Display schauen, um zu wissen, dass er es war. In der vergangenen Stunde hatte er es schon zweimal versucht. Für Hanna war es wie eine weitere Niederlage nach einer ohnehin schon verlorenen Schlacht, als sie abermals den Anruf wegdrückte. Sie fühlte sich, als steckte ein Messer in ihrer Brust, und jedes Mal, wenn sie sich auf unbedachte Weise bewegte, wurde es ein wenig in der Wunde herumgedreht, immer wieder, so lange, bis sie glaubte, daran sterben zu müssen. Der Drang, endlich zu weinen, war fast übermächtig, doch diese Schwäche konnte sie sich jetzt nicht erlauben. Und so, wie es aussah, auch nicht das ganze nächste Jahr.
Mit fahrigen Bewegungen legte sie ihre Jacke zusammen und wandte sich zu Erik um, der soeben das Zimmer betrat.
»Hallo, da bist du ja. Es kann losgehen.« Sie gab sich lässig und aufgeräumt, obwohl sie sich am liebsten irgendwo in einem dunklen Raum versteckt hätte.
Erik stellte seine schon fertig gepackte Reisetasche auf einen Stuhl und zog den Reißverschluss zu. »Ja, es wird Zeit.« Er sah sie nicht an bei diesen Worten, auch nicht, als Hanna auf ihn zutrat und ihm die Hand auf die Schulter legte.
Sie wollte nett zu ihm sein, eine unverbindliche, freundliche Bemerkung machen, etwas in der Art wie Schön, dass luir endlich wegkommen.
Doch der Satz erstarb ihr auf den Lippen, als sie spürte, wie er sich unter ihrer Berührung
Weitere Kostenlose Bücher