Sehnsüchtig (German Edition)
doch?
ALYS IM WUNDERLAND
Alys tritt von einem Fuss auf den anderen und verbirgt so viel Gesicht wie möglich hinter ihrem Schal. Die Kälte beisst in jedes freie Stück Haut. Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Der gelbe Lichtkegel einer Strassenlampe spiegelt sich im Ziffernblatt. Ringsum hängt die Nacht noch schwarz und schwer zwischen den Häusern. Es ist halb sechs. Er müsste jeden Moment erscheinen. Da hört sie ein vertrautes Motorengeräusch. Mit viel Schuss rauscht der alte 911 um die Ecke. Einmal mehr fragt sie sich, wie gut dessen Reifen wohl auf dem Asphalt haften. Wäre sie Irina, würde sie vor Sorge kein Auge zumachen, wenn Eliot im Winter mit dem Porsche unterwegs ist. Du bist aber nicht Irina, ermahnt sie sich. Und überhaupt, vermutlich lacht er bloss über eine besorgte Bemerkung oder eine Ermahnung. Mittlerweile weiss sie, dass Eliot seinen eigenen Kopf hat. Man könnte es auch Hang zur Sturheit nennen. Ein gewisser Wagemut ist ihm jedenfalls nicht abzusprechen.
Sie greift mit klammen Fingern nach dem Türhebel. „Hallo“, sagt er und klingt viel fröhlicher als oft in letzter Zeit. Im Gegensatz zu ihr scheint er dazu schon vollständig wach zu sein. „Hallo“, sagt sie und schält sich aus dem Schal. „Du siehst müde aus“, sagt er.
„Danke“, erwidert sie spitz. Das bringt ihn zum Lachen. „Ich sagte müde, nicht schlecht. Du bist apart und das weisst du genau.“ Ihre Wangen sind plötzlich heiss, obwohl sie immer noch friert. Apart, kein Wort, das je jemand benutzt hat, um sie zu beschreiben. „Danke“, sagt sie erneut und diesmal meint sie es nicht ironisch. „Ich habe nicht besonders viel geschlafen. Und ich dachte, es macht nicht viel Sinn, mich zu schminken, wenn das nachher in der Maske ohnehin wieder runter muss“, sagt sie dann.
„Aufgeregt?“, will er wissen und die dunklen Augen betrachten sie so eingehend, dass ihr fast schwindlig wird. „Ja, ziemlich“, gesteht sie.
„Das musst du nicht“, hält er fest. Er betrachtet sie noch eine Weile, dann lächelt er sein schiefes und schelmisches Lächeln: „Mein Bondgirl ...“ Verlegen dreht sie den Kopf weg und kann dennoch spüren, wie er sie noch immer anlächelt. Irgendwie. „Nimm die Wolldecke. Du weisst ja, die Heizung ist nicht für viel ...“
Dankbar wickelt sie sich in das Tuch und gurtet sich dann an. Er ist bereits losgefahren, biegt an der grossen Kreuzung ab Richtung Industriequartier. „Wo ist Irina? Ich dachte, sie fährt mit dir, darum war ich überrascht, dass du mich abholen wolltest ...“ Der Porsche ist ein Zweisitzer, mit zwei Notsitzen hinten, wo kaum jemand Platz hat. Sie erinnert sich daran, wie Irina sein Auto als „schön, aber unpraktisch“ bezeichnete. Womit sie nicht ganz unrecht hatte.
Ihr Blick liegt auf seinem Gesicht aber diesmal blickt er sie nicht an. Stattdessen kramt er eine Zigarette aus der Schachtel hervor. Er sieht aus, als würde er intensiv über etwas nachdenken. Erst dann kommt seine Antwort. „Sie ist schon dort, bereitet alles vor und so ...“ Seine Stimme klingt abwesend. Etwas ist seltsam. Immer noch Ärger, immer noch Streit? Ihre Gedanken schweifen zurück zur Silvesterparty – seine offenbar auch ... „Hör zu, es tut mir Leid was vorgestern passiert ist ...“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“.
„Doch, muss ich.“ Er zieht an der Zigarette. „Ich will es“, verbessert er sich dann. „Ich habe mich daneben aufgeführt. Und es tut mir leid, dass du mich babysitten musstest.“
„Es ist nichts, was nicht jedem schon mal passiert ist.“
„Vielleicht“, räumt er ein. „Trotzdem“, fügt er hinzu. „Bestimmt fällt es dir jetzt nicht mehr so leicht, mich sexy und cool zu finden, wie du es für das Shooting solltest.“ Sein Tonfall ist wieder heiter und das Funkeln in seine Augen zurückgekehrt. Sie sieht es mit Erleichterung. Gleichzeitig sucht sie nach einer schlagfertigen Antwort, aber ihr Kopf ist leer. Also lächelt sie nur. Er grinst und setzt den Blinker. „Wir sind gleich da.“
Das Fotostudio befindet sich in einem dreistöckigen Gebäude, dem so ganz und gar nichts Glamouröses anhaftet. Alys blickt an der schmucklosen Fassade hoch und fühlt Aufregung in ihrem Bauch flattern. „Eine letzte Zigarette für die Nerven?“ Eliot kramt bereits in der Tasche seiner Lederjacke. „Ja“, sagt Alys gedehnt. „Nimm eine von meinen, ich schulde dir ohnehin ein Päckchen.“ Bevor sie ‚OK’ sagen kann, steht er
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